RICHGUNG NIRGENDWO 6 - STADTGRENZEN

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

April 1999!

 

 

aus dem Englischen übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de >

*** überarbeitet 2017 ***

 

Bemerkung der Autorin: Glaubt es oder nicht, aber wir sind wieder back on the road! <g> Ich möchte mich gerne bei allen bedanken, die mir zu dieser Serie in den letzten Wochen, äh... Monaten.... okay, okay, in den letzten *zwei Jahren* geschrieben haben. Was soll ich sagen? Das ist das Leben.

;-)  Aber ernsthaft. Für eine gewisse Zeit war ich einfach nicht motiviert genug, um weiter an dieser Serie zu schreiben. Ich hatte den Eindruck, dass Akte X ab der vierten Staffel irgendwie überholt geworden ist. Also, ein großes Dankeschön an jeden, der nicht meiner Meinung war und nicht aufgehört hat, nach mehr zu fragen—besonders Jenny, dessen "regelmäßiges Genörgel" mich dazu ermuntert haben, diese ganze Sache wieder aufzunehmen. Und Danke auch an die Fanficiton Junkies von AOL, die mich zu dem Punkt gebracht haben, dass ich einfach nachgeben musste. <bg>

 

 

 

 

STADTGRENZEN  - Kapitel 1

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

5/7/99

 

 

 

PROLOG: SONNTAGMORGEN

 

Ein lautes, schrilles Klingen zerriss die Stille.

Der Mann starrte auf das schwarze Stück Kunststoff, dessen blinkendes grünes Licht ihm anzeigte, dass er einen Anruf bekam. Er starrte ausdruckslos auf das Telefon, als ihn eine schlimme Vorahnung befiel. Er hatte schon die ganze Nacht auf diese Nachricht gewartet, und mit jeder Stunde wurde das üble Gefühl, das in seinem Magen entstanden war, stärker und stärker.

Er ließ das Telefon einmal, zweimal, dreimal klingeln und zwang seine Hand ruhig zu bleiben und nicht nach dem Hörer zu greifen.

Das Telefon klingelte sechsmal, bevor er es endlich abnahm.

"Ja?"

Das einfache Wort war mehr ein Befehl als eine Frage.

"Hallo...." Die Stimme am anderen Ende der Leitung war nicht die, die er eigentlich erwartete hatte. Der Anrufer besaß nicht Christophes unverschämte Autorität; im Gegenteil, er sprach zurückhaltend, geradezu gestockt in seiner Unsicherheit. "Ich... ich habe diese Nummer hier gewählt, eine Notrufnummer..."

"Wer ist da?"

"Äh.... Danny. Daniel Payne. Ich bin der Fahrer, der Ihre Männer nach Santa Fe bringen sollte. Einer von ihnen hat mir diese Nummer hinterlassen."

"Wo sind sie?"

"Tja, Sir", sagte Payne, ein leichtes Leiern in seiner Stimme, "das ist ja das Problem. Sie sind noch nicht zurück gekommen. Ich sitze schon seit über zwölf Stunden hier am Rollfeld—also im Grunde schon die ganze Nacht. Sie sind in einem Wagen weg gefahren, und ich habe sie seitdem nicht mehr gesehen."

Der Mann warf einen raschen Blick auf die Uhr und rechnete. In Santa Fe war es jetzt schon fast Morgen; er würde keine weiteren Informationen mehr erhalten. Der Mann wusste instinktiv, dass Christophe tot war. Es gab keine andere Erklärung für die Stille.

"Sir?" Die Stimme des Fahrers unterbrach seinen Gedankengang. "Ich... ähm, ich bräuchte weitere Instruktionen. Ich kann natürlich weiter warten, aber sie sind schon lange überfällig und...."

Der Mann schnitt ihm ungeduldig das Wort ab. "Ihre Dienste werden nicht länger benötigt."

"Okay, alles klar." Payne schwieg einen Moment. "Was ist mit.... was ist mit meinem Geld, Sir?"

"Sie werden es bekommen im Laufe der Zeit."

Der Mann legte auf, ohne auf eine Antwort des Fahrers zu warten. Er würde sich darum kümmern, dass das Geld gezahlt würde; er ließ nie etwas offen. Er war ein wenig ärgerlich darüber, dass Christophe so etwas Dummes getan hat und dem Fahrer seine Nummer gegeben hatte. Aber andererseits, Rufnummern konnten auch stillgelegt werden. Zumindest war jetzt seine Befürchtung bestätigt. Die Sache in Santa Fe war schlecht gelaufen, und das gerade zu dem ungünstigsten Zeitpunkt. Es waren bereits Vereinbarungen getroffen, die Tests fortzuführen, und die Nachricht einer weiteren Verzögerung würde ganz und gar nicht gern gesehen.

Der Mann griff nach der zerknüllten Packung auf dem Tisch und holte eine Zigarette heraus. Er strich ein Streichholz, zündete sie an und inhalierte das Nikotin. Als er langsam ausatmete, verhärtete sich sein Gesicht mit Entschlossenheit. Seine Bemühungen würden diesmal nicht umsonst sein. Sogar, wenn er die Situation von nun an persönlich in die Hand nehmen musste. Objekt Nummer 2-65-49557 würde gefunden werden, die Tests würden beendet und das Programm in Gang gesetzt werden.

Dana Scully, dachte der Mann, deine Zeit ist abgelaufen.

 

 

MITTWOCH

 

 

Die Wahrheit war: Rain war wirklich ganz schön schräg.

Nicht schräg auf eine vulgäre oder geschmacklose oder erschreckende Art. Nicht schräg als schaurig oder angsteinflößend oder gespenstig. Schräg als ungewöhnlich und exzentrisch und... eben *interessant*.

Rain hasste es, wenn alles zu normal war.

Das war der wahre Grund, warum sie aus ihrer Heimatstadt ausgezogen war. Nicht, dass dort auch seltsame Dinge passierten—das war mit Sicherheit so von Zeit zu Zeit. Aber wenn sie passierten, waren sie nicht seltsam genug für Rain. Es war gewohnt seltsam und demzufolge schlichtweg langweilig. Deswegen war sie noch in derselben Woche, in der sie ihren Highschool-Abschluss gemacht hatte abgehauen. Sie hatte Angst, eine von diesen Alltags-Frauen zu werden, die einen stinknormalen Typen heiraten und ein paar stinknormale Kinder großziehen und ein steifes, ödes und völlig zu vergessendes Leben führen bis sie sterben und im Friedhof nebenan begraben werden.

Außerdem wusste sie, dass da draußen die weite Welt auf sie wartete, und dass es irgendwo Leute gab, die genauso schräg wie sie waren. Wenn sie sie finden würde, würde wohl alles in Ordnung kommen. Also hatte Rain nach ihrem Abschluss die paar Sachen gepackt, die ihr etwas bedeuteten, und sich auf nach Westen gemacht, um ihrer Suche wenigstens einen Anfang zu machen.

Es war keine Überraschung, dass sie in Los Angeles landete. Rain hatte einmal einen Witz über L.A. gehört, dass dort nur ein Haufen Idioten und Kaputte lebten, und obwohl sie sich nicht mehr an die Pointe erinnern konnte, musste sie zugeben, dass wenigstens ein Fünkchen Wahrheit darin steckte.

Rain wohnte in Hollywood. Die Stadt, nicht der Wunschgedanke. Als sie das erste Mal hierhin gekommen war, war sie überrascht gewesen, dass es zwischen den beiden einen Unterschied gab. Die meisten der Filmstars und Filmemachern lebten nicht wirklich *in* Hollywood. Der größte Teil von ihnen wohnte weiter im Westen, wie Beverly Hills oder Brentwood. Oder im Norden, oben in einem der Canyons. Die Reichsten wohnten in Malibu.

Und das ließ in der eigentlichen Stadt Hollywood Platz für Leute wie sie. Die Schrägen, die Exzentrischen, die nirgendwo sonst hinpassten. Natürlich hatte Rain ihre Wahl gehabt. Sie würde noch weiter im Westen wohnen, in Los Feliz oder Silverlake oder vielleicht unten in Venice bei all den Künstlern, aber im Moment waren die Mieten dort zu hoch. Und außerdem passte ihr Hollywood ganz gut. Es war seltsam und ungewöhnlich und einzigartig. Es war ein Zuhause.

Rain ließ diese Gedanken durch ihren Kopf wandern in der Hoffnung, dass einer von ihnen ihre Vorstellungskraft antreiben würde und ihr eine Idee für ihr Songbuch geben würde. Ihr waren seit Tagen keine richtigen Ideen mehr gekommen, trotz der neuen Melodie, die ihr schon die ganze Zeit im Hirn herumspukte. Sie hatte die Melodie, aber nicht den Text, und das trieb sie zum Wahnsinn.

Sie summte leise vor sich hin und spielte ein paar Akkorde auf der Gitarre.  Dann zog sie ihren Ärmel hoch und sah auf die Uhr. Sie musste bald auf der Arbeit sein, sie konnte es sich nicht leisten, viel länger hier auf der Treppe von Cedrics Geschäft zu bleiben. "Ich komme zu spät, ich komme zu spät", sang sie still vor sich hin als armselige Begleitung zu der Musik.

Nicht, dass es wirklich etwas ausmachen würde. Das Tolle an ihrem Job war, dass Louie so unkompliziert war. Man könnte ihn tagelang an den Empfang des Hollywood Plaza Motels setzen, und das einzige, was ihn stören würde wäre, kein Alkohol zu bekommen. Also im Grunde machte es ihm nichts aus, wenn sie zu spät kam. Wenn sie mit einem Wahnsinns-Kater zur Vormittagsschicht zur Tür hineingestolpert kam. Oder wenn sie sich in der Mittagspause mal wieder viel zu lange in der Lobby des Capitol Records Gebäudes herumtrieb, um zu sehen, ob nicht irgendjemand Interessantes dort aufkreuzte. Oder wenn sie früher ging, um irgendeine Band am Troubadour spielen zu sehen in der Hoffnung, vielleicht einen Song mitsingen zu können.

Louie war cool, und er war total schräg und Rain liebte ihn dafür. Er musste mindestens sechzig sein, aber er trug seine langen grauen Haare offen auf den Schultern und seine Lieblings-T-Shirts waren die von Led Zeppelin. Rain war sich sicher, dass er mindestens sein halbes Leben in diesem schäbigen Motel verbracht hatte. Es war nicht gerade ein Ort, der Freunde oder Gäste von Einwohnern anlockte, und es war auch nicht die Art Motel, wo Touristen mit Geld übernachten würden. Den größten Umsatz machte es durch Leute, die hierher kamen, um sich auszuruhen und die die normalen Preise bezahlten, als ob sie wirklich planten zu schlafen, anstatt Sex zu haben. All die anderen Gäste waren gewöhnliche Leute, die am Busbahnhof drüben auf der Vine Street ankamen und nach einer Möglichkeit suchten, sich eine Runde hinzulegen, bevor sie den nächsten Bus woandershin nahmen.

Rain war das ganz recht, weil es bedeutete, dass die Leute, die normalerweise ein- und auscheckten, ebenfalls schräg waren—oder zumindest interessant. Und interessant war fast genauso cool wie schräg. Manchmal waren sie allerdings geradewegs angsteinflößend. Sie war erst zweiundzwanzig (Ende April dreiundzwanzig, fügte sie immer gerne hinzu, weil es sich besser anhörte), doch sie war nicht so naiv, um nicht zu wissen, dass nicht jeder Gast des Motels eine saubere Weste hatte. Und genau aus diesem Grund war sie froh über die Waffe, die Louie in einer Schublade unter dem Tisch des Empfangs behielt, und froh darüber, dass er ihr gezeigt hatte, wie man damit umgeht.

"Ich habe eine Knarre", sang sie vor sich hin. "Ich habe eine Knarre und ich weiß wie man sie benutzt..."

"Willst du mich etwa erschießen, Kleine?"

Rain sah auf und sah Tyrone vor sich stehen, dessen blaue Augen sie anblitzten als er sie angrinste, Zigarette in der Hand. Er hatte seinen typischen Tyrone Look an, ein enges schwarzes T-Shirt mit dazu passenden ebenso engen und verblassten Jeans. Sein Gesicht und seine Arme waren gebräunt und seine lockigen braunen Haare waren immer perfekt gestylt. Wenn er an Rains Heimatort auftauchen würde, würde er glatt ein großes Risiko eingehen, aber hier in Boys Town war er lediglich einer von vielen attraktiven Typen.

"Ich sollte dich erschießen", sagte sie zu ihm, "dafür, dass du ohne Mantel rumrennst. Ich meine, es ist *November*. Du fängst dir noch eine Erkältung."

Tyrone zuckte mit den Schultern und setzte sich auf die Treppe neben sie. "Ich komme gerade aus der Sporthalle, ich bin aufgewärmt."

"Krass", stöhnte Rain. "Jetzt bin ich mir *sicher*, dass du dir den Tod holst."

"Fang nicht an mit dem Scheiß", ärgerte Tyrone sie. "Ich habe schon eine Mutter. Außerdem", fügte er hinzu und zeigte dabei mit einer verächtlichen Handgelenkbewegung auf ihre abgenutzte Motorradjacke, "das Ding war du da an hast, verdient noch nicht einmal die Bezeichnung 'Jacke'."

"Scheiß drauf", sagte Rain und legte vorsichtig ihre Gitarre in den Koffer, der vor ihr lag. "Gib mal 'ne Zigarette."

Tyrone widersprach nicht und war auch ein Gentleman, als er ihr Feuer gab. "Wie lange sitzt du schon hier?"

Rain zog ihren Ärmel zurück, um auf die Uhr zu sehen. "Weiß nicht... ein paar Stunden."

"Alter!" bemerkte, Tyrone. "Hast du nichts Besseres zu tun als hier rumzuhängen?"

"Was soll ich denn machen, auf der Promenade spazieren gehen?" Rain kratzte sich am Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch ihr zerzaustes, hellblondes Haar. Ein Typ in einer Bar hatte ihr gestern gesagt, sie hätte Haare wie Mag Ryan, was sie schon fast dazu gebracht hätte, es sich auf der Stelle lila zu färben. Sie hatte es nur nicht gemacht, weil lila nicht gerade die Lieblings-Haarfarbe der Leute war, die ihre Art Musik mochten— und sie wollte möglichen Erfolg nicht wegen Eitelkeit sausen lassen.

"Außerdem", fuhr sie fort, "habe ich gearbeitet. Songs schreiben. Üben. Du weißt schon."

"Oh, ja, ich *weiß* schon." Was Tyrone da sagte, machte keinen Sinn, aber 'kein Sinn' war Tyrones Spezialität.

"Hast du den Schlüssel nachmachen lassen?"

"Ja. Ich habe sie alle machen lassen." Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und fragte dann, "Bist du dir sicher mit der Sache? Ich meine, du kennst diese Leute nicht einmal."

"Was soll ich da kennen?" Rain sah ihn mit einem Unschuldsblick an. "Es sind nette Leute, da bin ich mir sicher. Und sie brauchen was, wo sie sich hinhauen können. Und Justin wird nicht vor nächstem Jahr zurück sein, wenn überhaupt."

Justin war wahrscheinlich der erfolgreichste Mensch, den Rain in L.A.  persönlich kannte. Er war ein Freund von Tyrone und Cedric aus der Bar. Er machte Geschäfte, stattete Firmen mit Internet-Software aus. Er verdiente eine Menge Geld und er teilte sich die Zeit ein wie er wollte, was ihm viele Gelegenheiten gab, seinen beiden Hobbys nachzugehen: Sport und Dates, am besten miteinander verbunden.

Mit diesem Gedanken fügte Rain noch flüsternd hinzu, "Ich denke sogar nicht, dass er vor Ende der Skisaison zurück kommt, wenn du's wirklich wissen willst."

"Jaja, Skisaison." Noch ein typischer unsinniger Tyrone-Kommentar.

"Es ist perfekt." Rain bestand auf ihren Plan. "Wir beide brauchen das Geld, und Justin wird nie einen Ton davon erfahren. Außerdem hat er seine ganze Computerausrüstung mitgenommen, also gibt es nichts, was geklaut werden könnte.

"Die Stereoanlage", sagte er. "Sie könnten die Stereoanlage klauen."

Rain rollte die Augen. "Ja, klar, als ob sie die *Stereoanlage* mitnehmen! Sie sind mit dem Bus und einer Tasche Gepäck gekommen, und du denkst, dass sie mit der kompletten Ausrüstung abhauen werden. Ja, stimmt, es sind Stereoanlagen-Diebe."

"Sie könnten welche sein." Tyrone nickte nachdenklich. "Sie könnten die Experten-Diebe von Audio- und Videoausrüstung sein. So machen die vielleicht ihre Kohle. Du weißt schon, sie finden das Zeug und verscherbeln es."

"Tyrone", sie ließ ein langes genervtes Seufzen los. "Ich werde das nicht einmal mit einer Antwort würdigen. Du hast se nicht mehr alle, weißt du das?"

"Und du liebst das, Kleine." Er setzte sein spitzbübisches Grinsen wieder auf und Rain musste lächeln.

"Ich liebe es vielleicht, aber ich rede kein Wort mehr mit dir, wenn du's versaust." Rain fixiert ihn mit ernstem Blick und öffnete ihre Augen so weit wie möglich. "Ich *brauche* dieses Geld. Und ich will, dass du mir Justins Schlüssel gibst."

Tyrone erwiderte nichts darauf. Er ließ seine Kippe fallen und drückte sie mit dem Fuß aus. Rain fasste sein Schweigen als Aufforderung auf weiter zu reden.

"Er hat gesagt, es sei nur für eine Woche oder zwei, vielleicht sogar kürzer. Und ich gehe da rüber und passe auf, dass die *Stereoanlage* nicht weg kommt. Ich werde sogar die Blumen gießen", versprach sie und machte ihre eigene Zigarette aus. "Du musst überhaupt nichts machen."

"Nichts außer dir die Schlüssel zu geben."

"Und ich gebe dir die Hälfte des Geldes!" Sie wurde langsam frustriert. "Ich halte das für mehr als fair!"

Das Geräusch der Tür, die hinter ihnen geöffnet wurde, unterbrach die eskalierende Diskussion. "Was ist mehr als fair? Darf ich das auch wissen?"

Rain und Tyrone drehten sich um und sahen Cedric hereinkommen, eine gebräunte Hand auf seiner Hüfte, die andere hielt die Tür auf. "Ich meine, alles ist fair im Krieg und der Liebe, stimmts?"

Rain war insgeheim in Cedric verliebt. Er war mit Abstand der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Halb Jamaikaner, halb Ire. Er war in der Karibik aufgewachsen und sprach Französisch genauso fließend wie Englisch. Seine Haut war kaffeebraun und er trug seine schwarzen Haare in kunstvollen Zöpfen. Das Auffälligste an Cedric waren seine Augen, die das Grün von Smaragden hatten und denen absolut nichts fehlte. Sie bewunderte ihn, und wenn sie die Welt ändern könnte so, wie sie es wollte, würde sie als erstes dafür sorgen, dass er in ihrem Team spielte.

Tyrone lächelte beim Anblick seines Lovers. "Verdienst du jetzt deinen Lebensunterhalt mit dem Belauschen anderer Leute?"

"Nur, wenn es etwas Interessantes zu hören gibt", erwiderte Cedric und beugte sich zu Tyrone, um ihm einen Kuss zu geben. Als er zurück zog, runzelte er die Stirn. "Du hast wieder geraucht."

"Und was gibt's noch Neues?" antwortete Tyrone wie gewöhnlich.

"Das wird dich noch umbringen, Schätzchen", sagte Cedric, doch Tyrone zuckte nur mit den Schultern.

Rain hatte solche Diskussionen schon tausendmal erlebt, sie endeten immer auf die gleiche Weise. Heute hatte sie einfach keine Lust dazu. "Bist du hier drin fertig, Cedric?" fragte sie. "Ich muss zur Arbeit."

"Noch zwanzig Minuten oder so. Dann geht's ab mit Rock 'n Roll."

"Cool", freute sich Tyrone. "Zeit für M&M. Kommst du mit, Rain?"

"Ich muss arbeiten, schon vergessen?" Rain war nicht unbedingt traurig mit dieser Tatsache, denn sie war gerade nicht unbedingt in Stimmung für Margaritas bei Marix, das mexikanische Restaurant im Herzen von West Hollywood. Im Sommer war es vollgepackt mit geeigneten jungen Männern, die literweise eiskalte Drinks in sich rein kippten, um der Hitze von Los Angeles zu entfliehen, und sogar im Winter war es immer noch der beste Ort, um Kerle bzw. Frauen anzubaggern.

Das ist mein Leben, dachte sie und schüttelte fast den Kopf, als sie die Absurdität dessen erkannte. Meine zwei besten Freunde sind ein weißer Typ namens Tyrone und ein schwarzer namens Cedric, die nichts lieber wollen, als sich mit mir in Gay-Bars herumzutreiben.

Laut sagte sie, "Aber Louie kommt um Mitternacht zurück. Also, wenn ihr danach in den Club 80s geht, bin ich dabei."

Das ist mein Leben, wiederholte Rain zu sich selbst mit einem verdecken Lächeln. Und ich liebe es.

"Cool", sagte Cedric. "Warte noch kurz, dann bin ich fertig." Damit verschwand er wieder drinnen und die Tür fiel hinter ihm zu.

Wieder allein mit Tyrone, nahm Rain wieder ihre Attacke auf. "Okay, also bist du dabei oder nicht? Weil wenn nicht, muss ich mir was anderes ausdenken."

Tyrone schüttelte eine weitere Zigarette aus seiner Packung und zündete sie an. "Warum können die nicht bei dir bleiben?"

"Oh", Rain zog eine Grimasse. "Als ob sie das könnten." Ehrlich gesagt hatte Rain daran schon gedacht, aber sie hatte nicht einmal genug Platz für sich selbst in dem kleinen Studio, das sie oben in Franklin gemietet hatte.  Außerdem würde sie Ashley nie dazu überreden können. Ashley Fisher war die Frau, der das Haus gehörte, eine unverheiratete, karrierebesessene Vorsitzende einer Werbeagentur. Obwohl Ashley auszuhalten war, war sie überaus pingelig mit ihren Regeln. Weitere Gäste kamen absolut nicht in Frage.

"Das ist die einzige Möglichkeit, Tyrone. Und es ist die einzige, die Sinn macht. Also, sei kein Idiot, indem du uns beiden ein nettes Sümmchen durch die Lappen gehen lässt. Das ist Cash auf die Kralle, Mann. Und das sollte dir etwas bedeuten, es sei denn du hast bei Rocket Video eine Gehaltserhöhung bekommen."

Tyrone machte sich nichts aus ihrer Spöttelei, sondern zog gemütlich an seinem Glimmstängel und blies den Rauch in aller Ruhe aus. "Sag mir noch einmal, wie alles dazu gekommen ist." Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, aber er ignorierte ihn. "Was?" sagte er langgezogen. "Es ist ja nicht so, dass wir keine Zeit hätten."

"Okay", seufzte Rain und bediente sich noch einmal aus seiner Zigarettenpackung. Wenn er Geschichten hören wollte, sollte er sie auch bekommen.

 

 

ende von kapitel eins

 

 

STADTGRENZEN  Kapitel 2

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

5/7/99

 

 

aus dem Englischen übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de >

 

An einem Montagnachmittag [oder so, an dem ihre Geschichte begann], saß Rain am Empfang des Motels mit ihrer Aufmerksamkeit abwechselnd auf eine Wiederholung irgendeiner dummen Sitcom und der LA Weekly gerichtet, in der sie Konzerttermine las, als die Tür aufging. Ein Mann und eine Frau kamen herein und von der Sekunde an, in der sie den Raum betraten, hatten sie Rains völlige Aufmerksamkeit.

Krass!, dachte sie aufgeregt.

Der Mann war groß und dünn und hager, und er hatte eine große Tasche in einer Hand. Seine andere lag auf dem Arm der Frau, mit der er sie zweifellos durch die Lobby führte. Zweifellos, weil es jedem, der die Frau sah klar war, dass sie trotz des strahlenden Blaus ihrer Augen völlig blind war. Die Frau war viel kleiner als der Mann, aber sie sah nicht weniger erschöpft aus. Und es war offensichtlich, dass wo immer sie auch herkamen, sie sehr lange gebraucht haben, um hierher zu kommen.

*So* krass, dachte Rain und legte ihre Zeitung beiseite. "Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie mit einem überraschend normalen Ton. "Wir hätten gerne ein Zimmer", sagte der Mann. "Wie teuer sind die?"

"Fünfundsiebzig für ein Einzel, neunzig für ein Doppel und einhunderteins für ein King", antwortete Rain automatisch. Die Preise waren gemessen an der Qualität der Zimmer hoch, aber es war trotzdem ein Schnäppchen in LA, sogar in dieser Gegend.

Der Mann nickte und ließ den Arm der Frau los, um sein Portemonnaie aus der hinteren Tasche seiner Jeans zu holen. Er sah nach und sagte, "Wir nehmen ein King."

Sie teilen ein Bett, dachte Rain und grübelte, wie sich wohl getroffen haben mochten. Sie behielt jedoch ihren professionellen Gesichtsausdruck und fragte, "Nur für eine Nacht?"

"Fürs erste ja", sagte der Mann und reichte ihr ein paar zerknüllte Dollarnoten, die schon einmal bessere Tage gesehen hatten.

Rain nahm das Geld, steckte es in die Schublade und gab dem Mann sein Wechselgeld, wonach sie sie im Computer eincheckte. "Ich werde Sie in Zimmer 304 unterbringen", sagte sie. "Es ist im dritten Stock, der Aufzug ist dort drüben." Sie tippte die Zimmernummer ein und sah dann zu dem Mann auf. "Wie heißen Sie?"

Der Mann zögerte für nur eine Sekunde. "Ford. Rick und Lisa Ford."

Schneller mit dem Alias als die meisten, dachte Rain, als sie den Namen eingab. Dann drehte sie sich nach hinten zu dem Schlüsselbrett um und riss Nummer 304 von seinem Haken. "Bitte schön, Mr. Ford. Wenn Sie irgendetwas brauchen, wählen Sie einfach die Null und Sie haben den Empfang am Apparat. Wenn Sie nach draußen anrufen möchten, kostet es $.45 für ein Ortsgespräch, außerorts kostet es extra. Wählen Sie einfach einen Neun davor."

"Danke", sagte der Mann und nahm den Schlüssel entgegen. Dann wandte er sich wieder der Frau zu und nahm sie beim Arm. Erst dann fiel Rain auf, dass die Frau nicht ein einziges Wort während des ganzen Gesprächs gesagt hatte. Sie war still wie eine Sphinx und schien ebenso distanziert. Ihr Gesicht war von ihren langen dunklen Haaren verdeckt.

*Echt krass* dachte Rain, die ihre Augen nicht von dem Paar nehmen konnte. Sie beobachtete, wie sie im Aufzug verschwanden und war mehr als nur ein wenig enttäuscht, als sie wieder alleine war.

Allerdings hielt ihre Enttäuschung nicht lange an. Der Mann, Rick, war schon zwanzig Minuten später wieder in der Lobby. Als er zu ihr an den Empfang kam, fragte er, "Gibt es hier in der Nähe etwas, wo man schnell etwas Vernünftiges zu Essen bekommt?"

"Ja", antwortete Rain, "es gibt einen McDonalds bei der Bushaltestelle." Rick schüttelte den Kopf. "Und weiter?"

"Das ist Hollywood", grinste sie. "Sie können alles bekommen, was Sie möchten. Indisch, Thai, Mexikanisch, Italienisch. Da ist ein guter Chinese ein paar Blocks weiter."

"Und welches ist das Beste?"

Rain dachte einen Moment nach. Sie ging nicht oft essen, denn sie zog einen Happen in ihren eigenen vier Wänden vor, weil sie das Geld, das sie verdiente, lieber sparen wollte. "Ich würde den Mexikaner oder den Chinesen nehmen." Dann, nach einem Moment, "Möchten Sie dort essen? Oder nur holen gehen?"

"Letzteres", sagte Rick, der offensichtlich von der Sorte Mann war, die nicht viele Worte brauchte. Es war eine Fähigkeit, die Rain sich nie wirklich aneignen konnte.

"Also der Chinese", riet sie. "Es ist den Weg dahin wert—sie laden eine Menge Reis auf die Teller. Sie werden Tage daran essen."

"Hört sich gut an." Er blickte auf die LA Weekly, die es wieder direkt vor Rain auf den Tisch geschafft hatte. Stehen da auch Kleinanzeigen drin? Für Apartments und so?"

"Klar", sagte Rain und blätterte die Musik Rubrik weiter, um ihm die hinteren Seiten mit den Anzeigen zu zeigen. "Alles mögliche. Suchen Sie nach einer Wohnung?"

"Nur vorübergehend", antwortete er. "Wo bekomme ich so eine?"

"Überall", sagte sie, denn es war wirklich so. Allerdings hatte sie die Zeitung schon so gut wie durch, und das neue Anne Rice Buch brannte schon ein Loch in ihren Rucksack. "Sie können die hier haben. Ich hab' sie durch."

Rain klappte das Blatt zu und reichte es ihm. Rick klemmte es sich unter den Arm und bedankte sich lächelnd. "Danke." Dann drehte er sich um und ging zur Tür.

Sie sah ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, und fasste einen Plan. Es schien zwar ein bisschen verrückt, aber das waren gute Ideen eigentlich immer. Außerdem wollte sie nicht, dass Rick und seine 'Frau' wieder schnell wieder aus ihrem Leben verschwinden, wie sie aufgetaucht waren. Durch die beiden hörte sie plötzlich eine Musik in ihrem Kopf, die sie dazu inspirierte, einen Text zu der Melodie zu finden. Inspiration, das wusste sie, waren Gold wert—und wenn es ihr ein bisschen Cash bringen würde, wäre es das Risiko wert.

Und sie war sich ziemlich sicher, dass Tyrone genauso darüber denken würde.

Als Rick mit ein paar schweren weißen Tüten zurück kam, war ihr Plan zur Ausführung bereit. Allerdings machten ihr die Gäste, die sie am Empfang bedienen musste, einen Strich durch die Rechnung. Es war auch ein Pärchen, aber von einer völlig anderen Sorte, die wir-brauchen-das-Zimmer-wirklich-nicht-für-die-ganze-Nacht-Sorte. Rain war sich ziemlich sicher, dass die beiden minderjährig waren; zumindest das Mädchen, bei dem Jungen war sie sich nicht ganz sicher. Aber Gäste waren Gäste und Geld war Geld und sie checkte sie ein, wohl wissend, dass Louie es nicht wollen würde, dass sie es ihnen verweigerte.

 

Als sie mit ihnen fertig war, war Rick bereits im Aufzug verschwunden. Aber das schreckte Rain nicht ab. Wenn sie einmal ein Ziel vor Augen hatte, verlor sie es nicht wieder so leicht. Sie griff unter den Tisch und holte das Schild hervor, das Louie immer benutzte, wenn er sich mal wieder einen Drink holen musste, und hängte es an die Eingangstüre. Auf dem Schild stand "Bin in fünf Minuten zurück", und obwohl sie lediglich die leere Rückseite des Pappkartonschildes sah, wusste sie, dass man es draußen auf der Straße durch das Glas gut lesen konnte. Dann schloss sie die Vordertür ab und nahm den Aufzug nach oben.

Im dritten Stock war es fast völlig still, ausgenommen von dem gedämpften Gebrabbel des Fernsehers am anderen Ende des Gangs zur Linken. Rain ignorierte es und wandte sich zu dem Gang zu ihrer Rechten, und las während sie ging die Zimmernummern an den Türen, bis sie sich vor #304 vorfand. Sie sammelte allen Mut zusammen und klopfte dreimal, so offiziell wie möglich.  Sie erhielt keine Antwort, aber als sie ihr Ohr an die Tür legte, konnte sie das Geräusch von laufendem Wasser hören. Also klopfte sie noch einmal.

Nach einem Moment hörte sie eine leise, unbestritten weibliche Stimme durch die Türe. "Ja?"

"Hier ist Rain", rief sie. "Vom Empfang unten." Stille, lange Stille. Dann. "Was wollen Sie?" Ihr Geld, dachte Rain.

"Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden."

Wieder keine Antwort, allerdings hörte Rain jetzt Schritte, die leiser wurden, als sie sich von der Tür wegbewegten. Rain blieb stehen und wartete, und dann hörte das laufende Wasser auf. Sie merkte, dass sie schon länger als fünf Minuten hier oben war, bevor die Tür überhaupt geöffnet wurde.

Rick machte ihr auf. Er hatte ein Handtuch um seine Hüften gebunden und aus seinen Haaren tropfte das Wasser von der Dusche. "Was ist los?" fragte er, aber Rain konnte nicht sofort antworten, denn sie starrte wie benommen auf seine nackte Brust, auf der das Wasser in kleinen Bächen herunter rann. Er war schlank und braungebrannt, jeder Muskel ohne ein Gramm Fett.

"Was ist los?" wiederholte Rick und Rain leckte sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen, als sie nach den Worten suchte, die aus ihrem benebelten Hirn gewichen waren.

"Sie... Sie suchen nach einer Unterkunft?" Sie hörte, wie ihre Stimme eine Oktave höher wurde, wie die irgendeines dummen Schulkindes, und sie riss sich zusammen. "In der Zeitung. Die Weekly. Ich meine, ich hatte den Eindruck, dass sie nach einer Wohnung suchen."

"Und?"

Über Ricks Schulter hinweg konnte Rain die Frau neben dem Bett stehen sehen, und da sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, hielt sie ihren Blick stattdessen auf sie gerichtet. "Ich hätte vielleicht... ich hätte vielleicht etwas für Sie. Sie könnten es mieten. Vorausgesetzt es ist nur vorübergehend. Und Barzahlung."

"Wo?"

"Es ist die Wohnung eines Freundes. Ganz nett. Wirklich nett. Möbliert und alles." Irgendwie war alles ein wenig holprig und Rain wünschte sich auf einmal, dass sie nie hier hoch gekommen wäre.

"Warum sagen Sie mir das?" Seine Worte klangen schroff, aber Rain sah nichts als pure Neugier in Ricks Gesicht, und das gab ihr Mut.

"Weil", gab sie zu, "ich das Geld brauche." Und nach einem Moment fügte sie mutig hinzu, "Und weil Sie nicht von der Sorte zu sein scheinen, die gerne eine Menge Fragen beantwortet. Und ich bin nicht die Sorte Mädchen, die sie gerne stellt."

Er starrte sie für einen langen, nachdenklichen Augenblick an, und Rain war froh, dass sie ihm die Wahrheit gesagt hatte. Irgendwie nahm sie an, dass er es merken würde, wenn sie log.

"Wir denken darüber nach", sagte er letztendlich, und sie fühlte das Blut wieder in ihren Adern pulsieren. "Danke."

"Gern geschehen", erwiderte sie. "Ich habe bis Mitternacht Schicht. Und dann bin ich wieder morgen Nachmittag hier."

Rick nickte und schloss die Tür. Rain wusste nicht, ob sie jetzt über die bevorstehenden Möglichkeiten aufgeregt sein sollte oder froh darüber, dass die Unterhaltung vorbei war. Unentschlossen ging sie wieder zurück nach unten.

Einige Stunden und ein paar Anne Rice Kapitel später bekam Rain ihre Antwort. Das 'Ding' der Klingel kündigte die Ankunft des Aufzugs an, dann trat Rick heraus. Er wartete, bis er direkt vor ihr am Empfang stand, bevor er sprach.

"Sie haben einen Deal", sagte er ihr, "vorausgesetzt, die Wohnung ist okay und der Preis stimmt. Und solange Sie wirklich meinen, was sie über 'keine Fragen' sagten."

"Ich meine es", antwortet Rain, obwohl ihr in diesem Moment hunderte Fragen einfielen, von denen sie zuvor nicht gedacht hatte, sie zu stellen.  "Versprochen."

"Rain?"

Er sagte ihren Namen als eine Frage. Sie nickte und streckte ihre Hand aus. "Rain Meyer." Es war fast die Wahrheit; immerhin, war sie sich sicher, dass er ein Alias benutzte, deswegen musste er wirklich nicht erfahren, dass ihr echter Name Leah war.

"Schön, Sie kennenzulernen, Rain."

"Sie auch, Rick."

Rick nickte, aber sagte nichts weiter, sondern drehte sich nur wieder zurück zum Aufzug, dessen Türen noch offenstanden. "Morgen, dann", sagte er über seine Schulter.

"Morgen", echote Rain. Als die Türen des Aufzugs zuknallten und ihn aus ihrem Blickfeld nahmen, sah sie hoch zu der Uhr an der Wand.

Es war genau 23.58 Uhr.

 

 

 

"Also, das ist alles?" Tyrone rückte ein Stück auf der Treppe und kam dabei mit dem Fuß gefährlich nahe an die Gitarre heran. Blödes Ding. War immer im Weg. "Das ist die ganze Geschichte?"

"So ziemlich", sagte Rain. "Ich meine, es war Montagabend. Als ich gestern hereingekommen bin, waren sie nicht da. Ich habe bei ihnen im Zimmer angerufen, aber da war auch keiner. Sie sind ungefähr um fünf in der Lobby aufgetaucht, ich nehme an, sie sind sich ein Auto kaufen gegangen. Irgendeinen alten Volvo—ich habe ihm gesagt, er soll ihn einfach draußen auf der Straße parken. Er wollte sich die Wohnung schon ansehen, aber ich habe ihm gesagt, dass ich dich nicht erreichen könnte, also müssen wir das heute machen."

Tyrone nickte langsam, und überlegte. "Und wie bist du schließlich hierher gekommen?"

Sie zuckte mit den Schultern und nahm sich noch eine weitere Zigarette. Wenn sie so weitermachte, würde sie ihm eine neue Packung schulden. "Er hat um Rat gebeten. Und ich habe ihm einen gegeben. Cedric braucht die Scheine genauso wie wir. Außerdem macht der Laden mittwochs immer früh zu, also sind nicht viele Leute da und das passt ihnen ganz gut."

"Kleine, du hast ein Herz so groß wie ein Hotel. Ich weiß bloß nicht, ob das gut ist oder die Eintrittskarte zu einem Riesenhaufen Probleme."

"Ersteres", versicherte sie ihm und blickte wieder auf die Uhr. "Scheiße", stöhnte sie. "Ich komme *definitiv* zu spät zu meiner Schicht."

"Dann", schlug Tyrone vor, "könnten wir das ganze doch morgen machen. Dann kannst du sie auch da rein lassen."

Was sie betraf, war ihr morgen genauso recht wie jeder andere Tag auch. Er hatte allerdings immer noch seine Zweifel bei der ganzen Angelegenheit. Er hatte die Schlüssel machen lassen, weil er nicht ohne sie hier antanzen wollte. Kein Zorn auf der Welt war so schlimm, wie der einer wütenden Rain. Tyrone mochte sie; sie war eine gute Freundin, und sie wusste, wie man Party machte. Aber sie hatte die Tendenz zu handeln bevor sie nachdachte, und das machte ihn mehr als nur ein wenig nervös.

"Das läuft nicht", stöhnte Rain. "Nicht bei mir. Außerdem habe ich versprochen, dass...."

In dem Moment öffnete sich die Hintertür des Ladens und Cedric erschien mit einem zufriedenen Grinsen auf seinem Gesicht. "Fertig", verkündete er. "Seht euch mal an, was ich gemacht habe."

Rain stand auf und Tyrone stellte sich neben sie, um sich das mysteriöse Paar anzusehen. Er hatte einen leichten Nachteil, weil er das "Vorher" zu diesem "Nachher" nicht gesehen hatte, aber er war sich sicher, dass Cedric wieder mal seine Magie hat spielen lassen. Das war nicht sonderlich überraschend; Tyrone war der Meinung, dass Cedric fast ein Gott war.

Die Haare der Frau waren kurz, wirklich kurz, ein Igelschnitt mit ein paar Strähnen. Es sah so aus, als hätte Cedric es auch gefärbt; er hatte einen vollen, dunklen Ton—fast schwarz—das irgendwie zu ihrer glatten, blassen Haut passte. Er hielt nicht viel davon, sich Frauen anzusehen, aber diese hier war auf jeden Fall hübsch, trotz der Tatsache, dass ihre blauen Augen offensichtlich blind waren. Tyrone war insgeheim froh darüber, dass Rain es ihm vorher verraten hatte, sonst würde er bestimmt ziemlich überrascht sein, sie so ruhig hier stehen zu sehen—gemessen an den Umständen.

Der Mann, fand Tyrone, war mehr wert als nur einen schnellen Blick. Dank Cedrics geschickter Arbeit waren seine Haare hellblond mit Strähnen wie die eines Surfers, kurz geschnitten und kunstvoll gestylt mit nur ein wenig Gel. Es würde besser mit etwas mehr Bräune aussehen, das war sicher, und ein paar Stunden im Fitnessstudio wär auch etwas, was der Arzt hätte verschreiben können. Aber so dünn und mitgenommen er auch aussah, verdiente der Mann ein näheres Betrachten. Er war schlank, aber offensichtlich gut bemuskelt und seine volle Unterlippe war mehr als nur Grund genug, um das Geschäft perfekt zu machen.

"Seht euch das an", erklärte Tyrone mit einem unerwarteten Lächeln auf seinem Gesicht. "Winona Ryder und Brad Pitt. Hey", fügte er hinzu, als er das gesagt hatte, "sind die beiden nicht ein Paar?"

Cedric lachte, aber Rain war es peinlich. Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn glatt zweiteilen könnte. "Nein, du Idiot. Winona ist mit Matt Damon zusammen. Brad hat dieses Mädel aus 'Friends'. Ist auch egal." Mit einem leicht frustrierten Kopfschütteln fügte sie hinzu, "Rick, Lisa, das ist mein Freund Tyrone. Hört nicht auf ihn, er ist gaga. Ihr zwei seht toll aus."

"Hey", protestierte Tyrone, "ich mache nur Spaß." Er schüttelte beiden die Hand und bemerkte dabei, dass Rick Lisa nicht aus den Augen ließ.

"Ich kann mich nicht erinnern, meine Haare jemals so kurz getragen zu haben." Lisa betastete neugierig ihre neue Frisur.

"Ja, und ich war noch *nie* blond", Rick zog eine Grimasse des Unbehagens. "Nicht einmal als Kind."

"Glaub mir", versicherte Rain ihm, "ihr zwei seht total chic aus." Sie legte ihren Kopf zur Seite und betrachtete die beiden. Lisa fummelte immer noch an ihren Haaren und Rain hatte plötzlich eine Idee. Sie kramte in ihrem Rucksack. "Lisa, ich glaube, ich habe hier etwas für dich."

Nach einem Moment eifrigem Suchen zog Rain eine kleine Haarspange aus ihrer Tasche. "Der letzte Schliff", sagte sie erfreut. "Halt still für eine Sekunde." Sie beugte sich zu ihr, strich Lisas Strähnen zur Seite und steckte sie mit der Spange fest, die aus vielen kleinen Rheinkieseln gemacht war. "Jetzt sieht's klasse aus!" strahlte sie.

Lisa betastete die Spange und lächelte schwach. "Danke, Rain."

"Wenn die Musik-Kiste nicht hinhaut, gibt dir Cedric vielleicht einen Job", grinste Tyrone. Er wandte sich zu Cedric und fügte hinzu, "Super gemacht, Alter!"

"Was soll ich sagen?" Cedric hob schulterzuckend beide Handflächen. "Ich bin eben ein Genie, wenn es um Frisuren geht."

"Ja, klar, du Genie", murmelte Tyrone, aber er zwinkerte seinem Lover dabei zu.

Alle standen in betretener Stille, die durch Rain gebrochen wurde, als sie Cedric eine Umarmung von Herzen gab und ihm dafür dankte, dass er wegen ihr Überstunden machte. Rick und Lisa stimmten in das Dankeschön mit ein und dann war es Zeit zu gehen. Tyrone holte die beiden Schlüsselbunde heraus und gab einen davon Rain. Er versuchte, seine Nervosität herunterzuspielen, und dachte daran, wie gut das Geld seiner beginnenden Schauspielkarriere tun würde. Doch trotzdem hatte er immer noch einen allerletzten Anflug von Zweifel.

Hab ein wenig Vertrauen, sagte er zu sich selbst und verbannte das Bild der Stereoanlagendiebe aus seinem Kopf.

Rain hielt die Schlüssel in einer Hand hoch und grinste breit. "Die Schlüssel zu eurer neuen Hütte", verkündete sie stolz. "Und ab geht's mit Rock 'n Roll."

Jetzt, dachte Tyrone, gibt es kein Zurück mehr.

 

 

ende von kapitel zwei

 

 

 

 

STADTGRENZEN Kapitel 3

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

5/28/99

 

 

 

Fox Mulder musste zugeben, dass sich die Idee mit dem Apartment doch als ziemlich gut herausstellte. Es war in einer kleinen Straße kurz hinter dem – wie Rain es nannte -  'Plaza '— eine Erweiterung des Sunset Boulevards mit teuren Boutiquen und Restaurants. Sportwagen und trendig gekleidete Passanten füllten den Boulevard selbst, aber ihre Straße war ruhig und schien verhältnismäßig sicher.

Die Wohnung war in einem Apartmentkomplex in Stil der 40er Jahre mit Garten und Pool in der Mitte. Wäre es Sommer, würde Mulder wohl pausenlos in andere Bewohner des Hauses laufen, aber zu dieser Jahreszeit schien das kein besonders großes Problem zu sein. Die Wohnung, die dem Bekannten von Rain gehörte, war in der Ecke im hinteren Teil und Mulder stellte zufrieden fest, dass es direkt daneben eine Treppe gab, die in das daneben liegende unterirdische Parkhaus führte. Das bedeutete also zwei Ausgänge: die Treppe herunter und das Tor vorne zur Straße. So wie er die Sache sah, war die Möglichkeit in die Enge getrieben zu werden nicht ganz so groß.

Rain entriegelte die Tür und drückte sie auf. Sie trat ein, damit die beiden ihr folgen konnten. Mulder führte Scully umsichtig durch den Eingang und blickte sich anerkennend um. Er hatte vom ersten Moment an seine Zweifel an dieser ganzen Geschichte gehabt, aber bis jetzt schien es richtig gewesen zu sein, das Angebot angenommen zu haben.

"Es ist nicht gerade die größte Wohnung", gab Rain zu, als sie das Licht anknipste. "Ich meine, Justin lebt hier bloß allein. Aber es sollte für Euch beide eigentlich reichen."

"Ja, es ist in Ordnung", versicherte Mulder ihr, und je mehr er sich umsah, desto mehr meinte er, was er sagte. Es gab vier Zimmer; okay, fünf, wenn man den Esszimmerabschnitt dazu rechnete, der vom Wohnzimmer abzweigte. Das Schlafzimmer und das Bad waren beide groß im Verhältnis zu allem anderen, und die Küche war ein wahres Kunstwerk. Offensichtlich hat sie jemand eingerichtet, der gerne kochte. Sie war gut möbliert, eine schöne zeitgemäße Einrichtung mit vereinzelten ausgewählten Antiquitäten. Die ganze Wohnung war wohl von jemandem mit gutem Geschmack und Sinn für Stil eingerichtet worden.

"Und?" Scully sprach leise, ihre Worte galten nur für seine Ohren. "Wie ist es? Okay?"

"Mehr als okay, Lisa." Er nannte sie beim Decknamen, sogar als er flüsterte. "Es ist toll."

Scully lächelte ihn schwach an, doch sagte nichts weiter, und Mulders Bedenken stiegen noch um ein weiteres Stück.

Irgendetwas stimmte mit Scully nicht.

Mulder wusste nicht was es war, nicht genau, und ihr Verhalten verriet kein Stück. Mann, seit sie vor zwei Tagen in Los Angeles angekommen waren, hat sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Sie war die meiste Zeit still wie ein Geist gewesen, viel schweigsamer und zurückhaltender als er sich seit dem Beginn ihrer Flucht erinnern konnte. Sie vermied seine Fragen mit ihrem immerwährenden "Ich bin okay" und "Alles in Ordnung", aber er kannte sie gut genug, um zwischen den Zeilen zu lesen.

Ein Teil von ihm nahm an, dass sie mit dem Resultat seines Anrufs bei den Schützen an dem Abend, an dem sie angekommen waren, unglücklich war. Sie hatten es bis jetzt noch nicht geschafft, eine handfeste Spur zu der Verbindung mit dem Droperidol zu finden, was sicherlich niederschmetternd war. Andererseits war Mulder erfreut gewesen, als er hörte, dass Frohike ihnen wohl ein Treffen mit Dr. Robert Bard arrangieren könnte. Scully hatte weder auf die eine noch die andere Neuigkeit sonderlich reagiert, und als Mulder sie gedrängt hatte, mit ihm zu reden, hatte sie sich stockstur geweigert.

Was Mulder aber am meisten zusetzte war, dass Scully sich auch sonst von ihm abwandte. Sie ging nicht auf seine Versuche ein, bei ihr sein zu wollen und ließ gerade mal einen oder zwei Küsse zu, bevor sie sich wegdrehte. Obwohl er sich danach sehnte, bei ihr zu sein, schien sie sich plötzlich entziehen zu wollen, und er wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte.

Seine paranoide Seite nahm die Möglichkeit an, dass sie während der relativ ruhigen Busreise über ihre Beziehung nachgedacht und ihre Meinung darüber geändert hatte. Und obwohl eine ganze Menge passiert war seit ihrer ersten Nacht zusammen im Zug, war in Wirklichkeit lediglich eine Woche vergangen.  Es war möglich, dass sie es sich anders überlegt haben könnte. Um ehrlich zu sein, diese paranoide Seite an ihm bestand geradezu auf die Tatsache, dass eine solche Meinungsänderung in der ersten Woche einer Beziehung völlig nachvollziehbar ist. Zur Hölle, es passierte wahrscheinlich pausenlos.

Allerdings sah Mulder ihre Beziehung als viel älter an als nur eine Woche. Viel, viel älter. Jahre alt, um genau zu sein. Sie war unter Umständen entstanden, die nie ideal gewesen waren, sogar bevor sie aus D.C. weg mussten. Und trotzdem war sie umso stärker geworden. Jedoch blieb am Ende immer noch eine unumstrittene Wahrheit. Vor einer Woche hatten sie zusammen eine Grenze überschritten und jetzt hatte er Angst, dass er nun alleine auf der anderen Seite stehen könnte.

Es war sieben Tage her, seit sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er nie wieder die Möglichkeit dazu bekommen würde.

Irgendwie entglitt ihm alles. Sie entglitt ihm und das erschreckte ihn am meisten.

Im Moment wusste er allerdings nicht, was er dagegen tun konnte. Also schob er diesen Gedanken beiseite und führte Scully langsam durch den Raum, während er Rain zuhörte, die die Grundlagen für ihre Abmachung erläuterte.

"Ihr könnt alles benutzen was ihr wollt, wie Handtücher und Bettlaken und so weiter", sagte Rain. "Ich kümmere mich dann hinterher darum, dass alles gewaschen wird. Bleibt lediglich aus Justins Schränken und seinem persönlichen Kram heraus." Sie kicherte ein wenig und fügt hinzu, "Und benutzt die Stereoanlage nicht. Und wenn ihr doch Musik hören möchtet, dann bitte nur leise. Tyrone ist da sehr zimperlich."

Mulder zuckte die Schultern. "Sag ihm, er braucht sich keine Sorgen zu machen. Wir lassen die Anlage aus."

Als sie ihren Rundgang beendet hatten, schenkte Rain ihnen ein süßes Lächeln und spielte mit einer Locke ihres wirren Haares. "Und? Mögt ihr's?"

"Es ist toll", antwortete Mulder. "Sogar besser, als ich erwartete hatte."

"Gut." Rains Lächeln verschwand und sie setzte einen ernsteren Gesichtsausdruck auf. "Und wegen des Geldes...."

"Ich hab's hier", sagte Mulder und ließ Scullys Arm los, um nach seinem Portemonnaie zu greifen. "Zumindest schon einen Teil."

"Einen Teil?"

Er kramte in den Scheinen bevor er auf ihre Frage antwortete. "Ich habe genug für die ersten vier Tage hier. Den Rest bekommst du morgen."

Rains Stirn legte sich in Falten. "Ich dachte, ihr wolltet es wöchentlich bezahlen."

"Das wollten wir auch", versicherte Mulder ihr. "Das *wollen* wir auch. Das Auto hat bloß mehr gekostet als geplant."

Er hielt ihr das Bündel Dollarnoten hin, aber Rain nahm es nicht sofort.

Stattdessen bewegten sich ihre Augen von ihm zu Scully und wieder zurück. Sie war vielleicht Anfang zwanzig, aber in den verwaschenen Jeans und dem abgeschnittenen T-Shirt mit der Aufschrift "Rude Girl" konnte sie glatt als eine High School Schülerin durchgehen. Und doch hatte ihr Blick etwas, das sie über ihr Alter hinaus erfahren schienen ließ. Es war klar, dass sie ein Kämpfer war, klug und hart genug, um mit Leuten fertig zu werden, die dumm genug waren, sie zu unterschätzten.

Sie könnte die Polizei rufen....

Mulder verdrängte diesen Gedanken und erwiderte ihren Blick ohne zu zucken.

"Um wie viel Uhr morgen?"

"Mittags", versprach Mulder. "Nicht später."

Nach einigen Momenten nickte Rain letztendlich. Sie nahm das Geld und steckte es in ihre Hosentasche, dann gab sie ihm die Schlüssel zur Wohnung.  Sobald diese Transaktion beendet war, kehrte auch ihr freudiges Grinsen wieder zurück.

"Cool", sagte Rain. "Bringt es nach drei ins Motel. Dann habe ich Schicht."

"Danke sehr, Rain, dass du das alles arrangiert hast." Scully lächelte höflich in ihre Richtung. "Es hilft uns wirklich sehr."

"Kein Problem. Ihr tut mir auch einen Gefallen." Mulder hielt es kaum für möglich, aber Rains Grinsen wurde noch breiter. Sie tätschelte ihre volle Hosentasche und verkündete, "Ich bringe das direkt auf die Bank. Ich spare nämlich, um ein Demo Tape zu machen und das hier bringt mich schon ein ganzes Stück weiter." Sie schüttelte beiden die Hände und ging dann zur Tür.

"Hasta la vista", rief sie und dann war sie mit einem lauten Knall der Tür hinter ihr verschwunden.

 

 

Als das Licht in der Wohnung auf der anderen Seite des Innenhofs ausging, schloss Caitlin die Jalousien an ihrem Fenster. Sie schenkte sich noch ein weiteres Glas Cola Light aus der Liter-Flasche auf dem Tisch ein, ohne das tragbare Telefon absetzen zu müssen. Ihre Freundin Julie plapperte über dieses und jenes, doch Caitlin hörte nur mit halbem Ohr zu.

"....und er hat doch tatsächlich den Nerv mich anzurufen und mir zu sagen, dass er den Auftrag für das Probe-Drehbuch an jemand anderes gibt. Stell' dir das mal vor! Ich meine, weiß er denn nicht, für wen ich arbeite? Was soll das Ganze?"

"Ich hab keine Ahnung", antwortete Caitlin geistesabwesend. Sie hörte ihr nicht wirklich zu. Es war immer dieselbe alte Geschichte mit Julie, immer musste sie über irgendwas meckern. Wenn Julies Chef nicht einer der heißesten Produzenten der Stadt wäre, würde Caitlin sich gar nicht mit ihr abgeben. Okay, das zum einen, und zum anderen dass Julie ihre Fitness-Partnerin im Studio in der Straße war. "Vielleicht solltest du Jeff anrufen und dich beschweren."

"Ich rufe Jeff nicht an! Er behandelt mich jedes Mal wie den letzten Dreck."

"Hm, ja, das kann er." Caitlin schlenderte zurück zur Couch und rollte sich darauf zusammen, das Telefon zwischen ihrem Kinn und ihrer Schulter. Sie klappte wieder das Skript auf, das sie gelesen hatte, bevor Julie angerufen hatte, doch der Text sah jetzt auch nicht interessanter aus als vorher. Das schlimmste daran, eine frischgebackene Agentin zu sein, war der ganze Mist, den sie durchgehen musste auf der Suche nach möglichen Klienten. Es gab nichts Langweiligeres außer vielleicht diese idiotischen Hollywood Löcher, in die sie samstagabends viel zu oft ging. Es war Langeweile, die sie erst einmal dazu veranlasst hatte, aus dem Fenster zu sehen, und jetzt hatte sie die Neugier erst recht gepackt.

"Sag mal, redest du eigentlich nie mit Jeff?" kam Julies Stimme durch das Telefon. "Er ist so kalt, aber ich denke, dass du eh' nie was mit ihm zu tun hast. Ich meine, er ist wie ein Rivale für dich, okay, nicht gerade für dich, aber er arbeitet bei der Konkurrenz, also...."

"Hey, Jules?" Caitlin wartete, bis sie sicher gehen konnte, dass ihre Freundin ruhig sein würde, bevor sie weiter sprach. "Irgendwas Seltsames geht in meinem Block hier vor."

"Seltsames? Inwiefern? Sind da wieder ein paar Leute ohne Oberteil am Pool?"

"Gott, nein." Caitlin seufzte genervt. "Wir haben November, du Ei. Niemand ist am Pool. Aber ich glaube, Justins kleine Freundin führt etwas im Schilde."

"Ist Justin nicht weggefahren?"

"Genau", sagte Caitlin. "Das ist ja das Seltsame an der ganzen Sache."

"Glaubst du, dass sie da drüben dealt? Justin nimmt normalerweise starken Stoff."

"Ich weiß nicht.... vielleicht." Caitlin nahm ihre langen, blonden Haare in eine Hand und band sie sich in einem Pferdeschwanz zusammen, ohne das Telefon loszulassen. "Sie hat ein paar Leute da rein gebracht, und ist dann alleine gegangen. Und ich wette um den Arbeitsbericht für nächste Woche, dass Justin keine Ahnung davon hat."

"Wow. Das ist echt seltsam." Julie schwieg für einen Moment und fragte dann, "Ist jemand süßes dabei?"

"Nein", antwortete sie, doch nahm es dann zurück. "Okay, vielleicht. Ich meine, der Typ sieht gut aus, aber er schien mir ein wenig zwielichtig. Und er hatte 'ne Frau dabei—er hat sie, naja, er hat sie die ganze Zeit gestützt. Du hast vielleicht recht—die könnten tierisch high sein."

"Wow.... und was machst du jetzt? Rufst du die Polizei? Oder redest du erst mit Justin? Hast du die Nummer von da wo er gerade ist?" Julies Fragen wurden vom Anklopfen in der Leitung unterbrochen.

"Nein", sagte Caitlin. "Ich werde fürs erste erst mal die Augen offen halten." Wieder klopfte es in der Leitung.

"Die Augen offenhalten und in die andere Leitung gehen. Ich ruf dich später an."

Als sie den Anruf entgegennahm, ging Caitlin wieder durch das Zimmer und machte die Jalousien wieder auf. Sie würde noch einige Stunden mit Lesen verbringen, aber es könnte ja sein, dass das Licht wieder anging. Man kann nie vorbereitet genug sein.

 

Er glaubt dir nicht sieh nur in sein Gesicht er denkt du bist verrückt verrückt wie Mulder—

< SiemüssenmirglaubenSirichsagedieWahrheit >

Er dreht sich um du hast Skinner verloren du hast alles verloren—

< AgentScullySieführendashierzuweitesistsinnlos > --

< EsistnichtsinnlosSiehörenmirnurnichtzuichhabeBeweise > --

< WennichSiesuspendierenmüsstewürdeichestunführenSieesnichtzuweit > --

Dana Scully war sich dessen nicht bewusst, aber es passierte wieder. Kleine Stücke und Teile ihres früheren Lebens kamen zufällig und in wirrer Reihenfolge wieder zurück, drangen in ihre Träume ein und wirbelten ihren Schlaf auf.

< HabeichmichdeutlichausgedrücktScully > --

< jaSirichweißwelchePositionSievertreten > --

Verschwinde von da verschwinde von da vergeude nicht noch mehr Zeit mit ihm vergeude nicht noch mehr Zeit mit irgendjemand von ihnen nicht mal mit Mulder er wird dir auch nicht glauben er wird dir nicht zuhören er hört dir nie zu er hört dir nie nie nie zu—

 

Scully warf sich mit rasendem Herzen unter der Decke hin und her. Ihr Atem kam in heftigen Stößen, als ihr Körper verzweifelt um das Bewusstsein kämpfte, dass ihr Unterbewusstsein ihr verwehren wollte.

 

< WasmachenSiehierdasisteinzugangsbeschränktesLabor > --

Werd jetzt nicht schwach lass dich jetzt nicht zurückdrängen wenn du so nahe bist dass du die Waffe auf ihn richten könntest—

< IchwillwissenwasSiehiertunsagenSiesmir > --

< DashieristeinmedizinischesUntersuchungslaborwirführenUntersuchungendurch > --

< HörenSieaufmitdemScheißichwillwissenwashierlosist > --

Richte die Waffe auf ihn zeig ihm dass du dich nicht verarschen lässt --

< IchweißnichtwovonSiereden > --

< SieschuldenmireineErklärungSiehabenmirdiesesImplantatinmeinGenickgepflanzt, warumhabtIhrmirdasANGETAN > --

Er hat jetzt die Hosen voll du kannst es ihm ansehen dieser verdammte Doktor er hat Schiss er versteckt sich hinter dem Schreibtisch das ist gut das ist gut zwing ihn zum reden—

< IchhabüberhauptnichtsmitIhnengemachtLady > --

< SievielleichtnichtaberDiehabenundichmusseswissen > --

< HörenSieSieverstehenesnichtdasallesgehtüberSiehinaus > --

< Wassolldasheißen > --

< IchkannesIhnennichterklären > --

 

 

B-R-R-I-I-I-N-G B-R-R-I-I-I-N-G B-R-R-I-I-I-N-G

Was ist das für ein Lärm irgendein Alarm—

Irgendein Ablenkungs-Mist und es hat funktioniert was hat er in der Hand einen Briefbeschwerer oder so was duck dich duck dich Scheiße schieß auf ihn—

PENG PENG PENG

Er entkommt ihm nach ihm nach aus dem Büro den Gang hinunter—

Lauf lauf lauf lauf—

Er kommt gerade durch die Türe schnell schnell wenn du rennst wirst du ihn einholen verdammt die Tür ist zu wie hat er das bloß gemacht? Am anderen Ende der Halle muss noch ein Eingang sein es ist immerhin ein Zentral-Gebäude es muss einfach einen anderen Weg hinein geben was ist das für ein Lärm hinter mir laute Fußtritte jemand schreit mich die ganze Zeit an—

< ScullyhaltnichthinterihmheresisteineFalle > --

Er greift nach meinem Arm und zieht mich mit sich—

< Lassloslassloslassloserkommtdavon >

< LassihngehenScullywirmüssenweg > --

Kämpfe tritt fest zu er soll von mir runter—

< Muldergehvonmirrunter >--

Trete ihn ganz fest jetzt stolpert er und fällt wie habe ich das geschafft egal lauf weiter ich kann den Mann nicht entkommen lassen da ist noch eine Tür sie ist offen los rein und mach die Tür hinter dir zu wo bin ich hier?  in einem Labor? ist das das Labor wo sie es gefunden haben? aber wo ist er hin wo ist der Arzt? ein Hämmern hinter mir an der Tür—

< ScullymachverdammtnochmaldieTürauf > --

Ignoriere es einfach—

< DukannstmichjetztnichtaufhaltenMuldernichtjetztnichtjetzt > --

Los untersuche die Wände es muss irgendwo noch einen versteckten Ausgang geben ich weiß dass er hier ist wo soll er auch sonst hingegangen sein was ist das für ein Geräusch?

< OhmeinGottohmeinGott > --

 

 

Scully wachte zu Tode erschrocken auf. Sie fühlte, wie der Schweiß ihre Stirn herunter lief und die feuchten Stellen ihres T-Shirt an den Achselhöhlen. Sie holte tief und zitternd Atem und kreuzte die Arme entschlossen vor der Brust, als sie um Fassung rang.

Erst nach einiger Zeit schien es ihr, als ob sie ihr Gleichgewicht wieder gewonnen hätte. Sie lauschte, doch sie hörte nichts weiter als Mulders tiefes, gleichmäßiges Atmen. Erstaunlicherweise schien es, als ob er durch ihren letzten Alptraum nicht wach geworden war. Scully war nicht besonders überrascht. Immerhin hatte sie jetzt schon so weit Übung darin, dass sie nicht mehr schreiend aufwachte. Außerdem war er erschöpft. Wenn die letzten Tage für sie anstrengend gewesen waren, waren sie für Mulder doppelt so hart. Heute war vielleicht die erste Nacht seit einer Woche, in der er ordentlich schlafen konnte.

So leise sie konnte schlüpfte Scully aus dem Bett. Vorsichtig stand sie auf und ertastete sich ihren Weg durch das Schlafzimmer zum Badezimmer. Es war nicht einfach und trotz der detailgetreuen Beschreibung, die Mulder ihr gegeben hatte, nachdem Rain gegangen war, war das Apartment immer noch ungewohnt und fremd.

Sie stieß einmal mit dem Knie gegen die Kommode, aber dann fand sie endlich die Tür. Sie machte sie geräuschlos auf und dann hinter sich zu, als sie ins Bad ging. Die Toilette war in der Ecke an der Wand. Sie ließ sich mit einem erleichterten Seufzen darauf niedersinken, der Toilettendeckel kalt an ihren nackten Beinen. Hier konnte sie einen Moment ohne Mulders wachsame Adleraugen verbringen. Hier konnte sie eine Weile sitzen und nachdenken. Und wenn sie weinen und sich die Augen reiben wollte, verdammt, dann konnte sie es hier endlich machen.

Scully hasste Los Angeles jetzt schon.

Sie hatte es seit der Sekunde gewusst, in der ihr Bus in der Stadt angekommen war, dass hier kein Ort war, an dem sie sich je sicher fühlen könnte. Der Lärm auf der Straße war ohrenbetäubend, ein heilloses Durcheinander von Motoren und Hupen und scheppernder Musik, ganz zu schweigen von dem allgegenwärtigen Gebabbel von mindestens tausend Stimmen. Die Stadt roch schrecklich nach Benzin und Abgasen und dem schalen Fettgeruch von Fast Food. Es war ein gewaltiger Unterschied zu der klaren, sauberen Luft in Santa Fe. Die Straßen waren so voll, dass sie Mühe hatten, in den Menschenmassen vorwärts zu kommen, und Scully hatte sich richtig an Mulder klammern müssen, als sie sich nach einer Bleibe umgesehen hatten.

Das Motel, für das sie sich entschieden hatten, schien dem muffigen Geruch und dem Teppich nach zu urteilen, der sich dünn und rau unter ihren Füßen angefühlt hatte, eine Stufe über einem völligen Drecksloch zu sein. Das Wasser aus der Dusche hatte nach Rost gestunken und die Bettbezüge waren kratzig und rau. Im Vergleich zu Elliot und Becks schönem Loft war das Motel erbärmlich, aber in der ersten Nacht war Scully viel zu müde gewesen, als dass es sie besonders gestört hätte.

Rückblickend jedoch war ihre Wahl für dieses Motel gar nicht so schlecht gewesen. Sie hatten dadurch immerhin Rain kennengelernt und Scully war jetzt froh, dass sie sich für Rains Angebot entschieden hatten. Bis jetzt schien die Wohnung viel netter als alles andere, dass sie sich leisten konnten. Diese Ecke der Stadt war viel ruhiger und es roch definitiv nicht so schlimm. Mulder hatte ihr von dem Garten erzählt, der das Gebäude umringte, doch selbst ohne diesen Hinweis hätte sie den süßen, vollen Duft von spät blühendem Jasmin erkannt, der durch die offenen Fenster drang.

Scully seufzte und rückte ein wenig, ein Ellenbogen auf dem Waschbecken und ihre Wange auf ihrer Handfläche gestützt. Sie bekam den Verdacht nicht los, dass sie einen großen Fehler begingen, aber bis jetzt hatte sie Mulder noch nichts von ihrem unguten Gefühl erzählt. Stattdessen hatte sie ihn still begleitet, als er das Geld abgeholt hatte, dass die Schützen geschickt hatten. Sie hatte eine Sonnenbrille getragen, um ihre Blindheit zu verbergen, war mit ihm das Auto kaufen gegangen und war für eine zweite Nacht wieder mit ihm in das düstere Motel zurückgekehrt. Heute war nichts weiter passiert, als ein Besuch beim Frisör und die Ankunft hier. Das einzig erwähnenswerte wäre vielleicht noch der Anruf bei Byers, um noch mehr Bargeld zu arrangieren.

Während all dessen war Mulder äußerst besorgt um sie gewesen, seine konstante Anwesenheit hatte sie fast erstickt. Er bemutterte sie viel zu sehr, war viel zu paranoid, und obwohl Scully den Grund dafür verstehen konnte, war es deswegen nicht leichter es zu ertragen. Die vergangene Woche war für sie beide furchtbar gewesen, doch Mulder hatte sich noch eine zusätzliche Bürde der Schuld aufgehalst. Obwohl er es immer abstritt, wusste sie, dass er sich für ihre Trennung in dem Zug die Schuld gab. Aber das war jetzt vorbei und jetzt gab es andere Dinge, und langsam kam sie zu dem Punkt, an dem sie jedes Mal zuckte, wenn er nach ihrer Hand griff. Ich kann das selber, wollte sie schreien, doch in Wahrheit konnte sie es nicht.  Zumindest nicht immer; und Mulder schien in letzter Zeit die Fähigkeit verloren zu haben, mit der er unterscheiden konnte, wann sie seine Hilfe brauchte und wann nicht.

Allerdings, um ehrlich zu sein, war es nicht wirklich Mulder, der sie aufregte. So sehr sie es auch versuchte, konnte Scully nicht die Worte vergessen, die Christophe in der Mine zu ihr gesagt hatte. Sie spielten sich wieder und wieder in ihrem Kopf in einer Endlosschleife ab.

"Es gibt da einige Leute, die noch nicht ganz fertig mit Ihnen sind. Leute, die wollen, dass ich Sie zu ihnen zurück bringe."

Scully schluckte und fuhr sich mit der Hand durch ihre neuerdings kurzen Haare, als sie über die Bedeutung dieser Worte nachdachte. Noch nicht ganz fertig mit ihr... diese Äußerung machte es klarer als alles andere, dass ihre Entführung Teil Eins eines durchdachten Plans gewesen war. Dass der Chip in ihrem Genick ihr aus einem ganz bestimmten Grund eingepflanzt worden war. Dass die Disc, die Mulder aus der Mine mitgenommen hatte, tatsächlich ein signifikantes Teil in einem riesigen Puzzle war.

Was sie jetzt machen mussten war einen Weg zu finden dieses Puzzle zu lösen. Nicht irgendwo in Los Angeles herumhängen und darauf hoffen, dass irgendein Arzt eine Wunderheilung für sie bereithält. Scully hatte keinerlei Ambitionen, Dr. Robert Bard zu treffen. Sie brauchte keinen Augenspezialisten, der ihr sagte, was sie bereits wusste. Sie musste die Leute finden, die hinter ihr her waren und deren Motive herausfinden.

"Leute, die wollen, dass ich Sie zu ihnen zurück bringe." Sie zurückbringen.... aber wofür? Für weitere Tests? Weitere Experimente? Scully schüttelte sich bei dem Gedanken. Sie würden sie einholen, darüber war sie sich sicher, und das beängstigende an dieser Stadt war, dass sie dauernd den Eindruck hatte, als ob Die hinter jede Ecke auf sie lauern. Sogar hier, in der relativen Sicherheit des Apartments von Rains Freund konnte sie sich nicht erlauben, unaufmerksam zu sein.

"Scully?"

Der Klang ihres Namens ließ sie zusammenfahren. Sie war so in ihren Gedanken verloren gewesen, dass sie nicht einmal gehört hatte, wie er an die Tür gekommen war. Ein leises Klopfen echote durch die Tür, dann hörte sie wieder seine Stimme.

"Scully? Bist du okay da drinnen?"

Nein, ich bin nicht okay.

Ich habe Todesangst.

Die werden mich kriegen.

"Ja", antwortete sie automatisch und stand auf. Sie fummelte nach dem Griff und spülte die Toilette, womit sie eine Erklärung für ihr Hiersein hatte.

Sie ging zur Tür, schloss sie auf und lief geradewegs in ihn hinein.  "Mulder..." Sie murmelte entschuldigend seinen Namen und trat einen kleinen Schritt zurück. "Ich sagte, es geht mir gut. Ich kann alleine wieder ins Bett gehen."

"Ich weiß", erwiderte er, aber dann fühlte sie trotzdem seinen Griff an ihrem Arm. Sie biss sich auf die Lippe, um ihren Ärger zurückzuhalten, ließ sich von ihm wieder zurück führen und glitt unter die Bettdecke. Mulder folgte ihr augenblicklich. Er drehte sich, bis er sie mit seinem Körper ganz umschlang, ein Arm um ihrer Hüften, den anderen unter den Kissen.

"Okay so?" flüsterte er und obwohl ein Teil von ihr noch immer wütend auf ihn war, nickte sie und rückte zurück, so dass sie so nahe wie möglich neben ihm lag.

"Fühlt sich gut an", seufzte sie und trotz allem meinte es ein kleiner Teil von ihr auch so.

Er küsste sie sanft aufs Genick, einmal, dann noch einmal. Seine Küsse waren schön, aber als seine Hand über ihren Bauch hinauf glitt, um ihre Brust zu streicheln, verspannte sie sich. Seine Finger strichen auf ihrem Weg zu ihren Schultern über ihre Brustwarze. Mulder streichelte ihr Schlüsselbein und nahm dann ihre Wange in seine Hand.

Scully versuchte, still liegenzubleiben und das Hämmern ihres Herzens in ihrer Brust zu ignorieren.

Seine Lippen platzierten einen sanften, weichen Kuss hinter ihr Ohr, seine Zunge huschte heraus, um an die Form ihrer Ohrmuschel entlang zu streichen.

Plötzlich fiel es ihr schwer zu atmen.

"Mulder..."

Er hörte bei ihrem Protest augenblicklich auf. Seine Hand blieb noch eine unendliche Sekunde an ihrer Wange, dann zog er sie weg. Er legte seinen Arm wieder zurück an ihre Hüften und hielt sie dieses Mal nicht so eng. Sie wusste, dass sie ihm weh getan hatte. Die Enttäuschung, die von ihm ausströmte, war intensiv genug, dass sie fast greifbar war; sie krachte zwischen ihnen herunter wie eine Mauer, die sie nicht entfernen konnte. Sie konnte jedoch jetzt nicht mit ihm schlafen, nicht jetzt, nicht wenn sie sich so distanziert fühlte. Wenn er es doch nur verstehen würde.

"Ich bin nur müde, Mulder."

"Ich weiß", flüsterte er, aber sie konnte die Traurigkeit in seiner Stimme hören.

"Ich liebe dich."

"Ich liebe dich auch." Er drückte sie jetzt fester an sich heran und sie ließ es zu.

"'Nacht, Scully."

"'Nacht", echote sie und schloss ihre blinden Augen.

Scully hörte, wie sein Atem langsamer und tiefer wurde, als er allmählich einschlief, doch sie lag wach, unfähig sich wie gewöhnlich von seiner Wärme und der Sicherheit seiner Umarmung trösten zu lassen.

Es war nicht viel später, als ihre Ängste weit genug verebbten, dass sie einschlafen konnte.

 

 

STADTGRENZEN Kapitel 4

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

7/14/99

 

 

 

 

DONNERSTAG

 

 

 

Obwohl er es vor niemandem zugeben würde, war der Mann nervös. Es kam immer noch nicht sehr oft vor, dass er mit dem Konsortium eine Zuhörerschaft hatte; schon allein dadurch bekam er feuchte Hände. Es war sogar noch schlimmer, ihnen jetzt mit dem Gedanken gegenüberzutreten, dass die Sache immer noch nicht erledigt war. Eine Angelegenheit, die er eigentlich schon längst hatte erledigt haben wollen.

Aber der Mann war ein Profi im Bluffen und im Spielen politischer Spielchen. Und deswegen konnte er sich mit seelenruhiger Fassade eine Zigarette anzünden und den Rauch mit praktizierter Nonchalance in den Raum blasen.

"Sie sind sich im Klaren darüber, dass die Zeit knapp wird."

"Ja, das bin ich", sagte der Mann, als er noch einen weiteren Zug nahm.

"Ich kenne den Zeitplan."

"Und Sie wissen auch, dass Sie nicht wie besprochen geliefert haben?"

Der Mann kannte keinen der Mitglieder des Konsortiums mit Namen. Er war noch nicht privilegiert genug, um dieses Recht zu bekommen. Daran war er jedoch gewöhnt und ihre Anonymität brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Er antwortete jedem Mitglied nacheinander, und behandelte jeden mit dem Respekt, von dem er hoffte, dass er ihm eines Tages auch einmal zukommen würde.

"Eine kleine Verzögerung", sagte der Mann. "Nichts weiter. Wir werden das Objekt rechtzeitig bekommen."

"Wie wollen Sie uns das garantieren? Sie haben noch nicht bewiesen, dass Sie Ihre Versprechen uns gegenüber halten."

Der Mann zuckte die Schultern. "Ich habe den Fehler begangen, andere Leute Arbeit machen zu lassen, die ich lieber selber hätte tun sollen. Leute, die nicht so gründlich sind wie ich."

"Und wie wollen Sie jetzt fortfahren?"

"Mit zwei Dingen, um genau zu sein." Der Mann inhalierte tief. "Das Objekt hat Santa Fe verlassen, und wenn ihr Begleiter nicht gewesen wäre, würde sie schon längst hier sein. Ich bin allerdings immer noch der Ansicht, dass ich sie aufspüren kann."

"Woher diese Zuversicht?"

"Ich habe hilfreiche Informationen erhalten." Der Mann erlaubte sich innerlich ein verstecktes Lächeln, als er daran dachte, wie zufriedenstellend es war, diese Information zu bekommen. "Sie sind unvorsichtiger geworden und ich denke nicht, dass es schwer sein wird, ihrer Spur zu folgen."

"Und die zweite Sache?"

Der Mann erlaubte sich ein kaum sichtbares Grinsen. "Der beste Weg, eine Ratte durch ein Labyrinth zu führen ist, sie mit einem besonders leckeren Stück Käse zu locken. Ich bezweifle nicht, dass sobald wir den richtigen Käse auslegen, unsere kleine Laborratte ihren Weg nach Hause finden wird."

 

 

Es schneite.

Margaret Scully blickte von dem Brief auf, den sie gerade las und sah, dass es draußen schneite. Dicke weiße Flocken, die die Fensterscheibe hinab glitten und sich auf dem Sims sammelten. Auf dem Boden lag schon eine dicke Schicht, also muss es schon eine Weile geschneit haben, bevor sie es bemerkt hatte.

Ihre Unaufmerksamkeit war jedoch nicht ungewöhnlich für sie, nicht in letzter Zeit. Denn in letzter Zeit schienen ihre Gedanken pausenlos abzuschweifen, und sie ertappte sich bei den simpelsten Sachen dabei, wie sie an ihre jüngste Tochter dachte und sich fragte, wo sie war und ob es ihr gut ginge.

Ob es wohl schneite, wo sie gerade war?

Margaret wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Brief in ihre Hand zu. Er war von Bill, der auf seinen Flottenmanövern über den Pazifik alles andere als Schnee sah. Bills Briefe waren genau wie Bill selbst; kurz, knapp, und geschäftlich, aber trotzdem berührten sie immer ihr Herz. Keines ihrer Kinder hatte jemals ein besonderes Talent fürs Briefeschreiben gehabt, außer vielleicht Melissa. Wenn ihr danach war, hatte sie immer lange Briefe geschickt mit blumiger Prosa und endlosen Beschreibungen der Orte, die sie gesehen hatte, und Menschen, die sie getroffen hatte. Melissa, der Schöngeist.

In Zeiten wie diesen bereute es Margaret, dass sie und Melissa keine bessere Beziehung gehabt hatten. Jetzt, wo alles zu spät war, konnte sie sich an all die Gelegenheiten erinnern, in denen sie sich gestritten hatten, und sie wünschte sich sehnlichst, die Zeit zurückdrehen zu können und eine bessere Mutter zu sein. Eine bessere Freundin zu sein.

Mit Dana war es nicht so schwierig gewesen. Sie haben sich immer nahe gestanden, seit Dana ein kleines Mädchen gewesen war, und in den letzten Jahren wahrscheinlich noch mehr. Margaret hatte den Missmut ihres Mannes über die Entscheidung ihrer Tochter, FBI-Agentin zu werden, nicht geteilt. Oh, sie war vielleicht ein wenig enttäuscht gewesen, ihren Traum aufgeben zu müssen, Dana irgendwann als Chefin irgendeines großen Krankenhauses zu sehen. Und sie hatte sich sicherlich Sorgen gemacht wegen den Gefahren, die dieser Beruf mit sich brachte. Aber sie hatte es ihr nie nachgetragen. Margaret wollte für ihre Kinder nichts mehr, als dass sie erfolgreich sind und die Welt ein kleines Stückchen besser machten, und wenn für das FBI zu arbeiten Danas Art war, das erreichen zu wollen, hatte sie ihr nicht im Weg stehen wollen.

In letzter Zeit hatte sie jedoch auch das bereut. Wenn sie sich doch nur den Protesten ihres Mannes angeschlossen hätte, wenn sie doch nur darauf bestanden hätte, dass Dana auf diesen Beruf verzichtete, wäre all das nicht passiert. Wenn sie es doch nur getan hätte, wäre Dana jetzt nicht verschwunden.

Wenn nur...

Margaret stand von der Couch auf, faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder zurück in den Umschlag. Sie ging nach oben und machte den Schrank am anderen Ende des Flurs auf, aus dem sie eine der Hutschachteln herausholte, die im mittleren Fach lagen. Sie hob den Deckel hoch und legte Bills Brief oben auf den Stapel von Postkarten, Bildern und Urlaubsgrüßen.  Sie warf nie etwas weg, das ihren Kindern gehörte.

Margaret seufzte, als sie die Tür wieder schloss, und dachte wieder an Dana. Vielleicht sollte sie Walter Skinner anrufen, nur um mal nachzufragen. Morgen würde es eine Woche her sein, seit er zu ihr gekommen war und berichtet hatte, dass er Fox in Texas verpasst hatte. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie wusste, dass wenn sich bei der Suche irgendetwas Neues ergeben würde, würde er sie sofort anrufen. Aber es konnte nicht schaden, mal nachzufragen.

Vielleicht gab es heute ja Neuigkeiten.

 

 

Mulder nahm den letzten Schluck seines Kaffees und sah auf die Uhr. Es war viertel vor zehn; noch zu früh, um Scully zu wecken. Sie hatten ja sowieso nichts weiter vor als Rain das Geld vorbei zu bringen und die Schützen anzurufen. Im Moment konnten sie nichts weiter tun als warten.

Vielleicht ist es ja das, grübelte Mulder, als er von seinem Stuhl aufstand, um aus der Küche noch mehr Kaffee zu holen. Vielleicht war es ja die Warterei, die uns verrückt macht. Ihre jetzige Situation war die einer ewig-langen Überwachung ähnlich. Das endlose, unermüdliche Beobachten und das Warten auf Informationen. Jede Sekunde konnten sie in Gefahr geraten. Verdammt, auf nicht wenigen solcher Observationen haben sie sich angefaucht, weil ihre Nerven dermaßen strapaziert waren—warum sollte es unter diesen Umständen anders sein?

Was die Sache allerdings noch schlimmer machte war, dass es kein zweites Team gab, das sie ablösen könnte. Sie waren völlig auf sich allein gestellt.

Und zudem war dieser "Fall" zutiefst persönlich.

Er runzelte die Stirn, als er in die Küche kam und seine Nemesis vor sich sah. Justins Apartment war in allem sehr kunstvoll ausgestattet, und die Kaffeemaschine war keine Ausnahme. Das Gerät eine Kaffeemaschine zu nennen war im Grunde eine Beleidigung, es war ein Espresso Master, und wie Mulder die Sache sah, musste man selbst ein Master sein, um dieses verdammte Ding ans Laufen zu bringen. Es konnte selbst Kaffeebohnen mahlen, selbst Milch hinzufügen und sich sogar selbst einschalten, wenn man nur die richtigen Knöpfe drückte. Aber Mulder ignorierte stur all diese automatischen Funktionen. Er war eher einer von der manuellen Sorte. Und solange er eine halbwegs ordentliche Tasse Kaffee aus diesem Ding herausbekommen würde, war er schon zufrieden.

Zu seinem großen Verdruss war der Behälter fast leer; zwei Tassen und er hatte fast das ganze Wasser verbraucht. Dann muss halt noch Wasser rein, entschied Mulder und versuchte sich genau einzuprägen, wie er den Verschluss geöffnet hatte, um einen neuen Filter einzufügen und ihn hinterher wieder richtig zuzumachen.

Er hörte, wie die Schlafzimmertür sich öffnete, gefolgt von leisen Schritten, die auf dem Teppich kaum hörbar waren. Und dann ihre schlaftrunkene Stimme. "Mulder? Wo bist du?"

"In der Küche", rief er und widerstand dem Impuls, zu ihr zu gehen und sie zu führen. Letzte Nacht hatte sie es nur allzu deutlich gemacht, dass sie ihren Freiraum wollte, und obwohl ihn das umbrachte, wollte er sein Bestes tun, um ihren unausgesprochenen Wunsch zu erfüllen.

Langsam kam sie in die Küche, ihre Arme etwas vor sich ausgestreckt, als sie ihren Weg durch die Tür fand. Sein Herz machte beim ihren Anblick einen Sprung, wie immer. Sie hatte nur ein T-Shirt und ihre Unterhose an, was ihr als Schlafanzug gedient hatte, ihre Beine und Füße waren unbekleidet. Ihre kurzen dunklen Haare waren wirr vom Schlaf, und es stand büschelweise in alle Richtungen. Er wollte sie umarmen, mit seinen Fingern durch ihre Haare streichen und die widerspenstigen Strähnen glatt streichen, aber er blieb wo er war und wartete, bis sie näher kam.

Scully erreichte den Küchentisch und lehnte sich mit einem kaum hörbaren Seufzen daran, ihre Ellbogen darauf gestützt. "Machst du Kaffee?"

"Ich versuche es zumindest", sagte er. "Dieses Ding kann mich nicht leiden."

Das brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Kein wirkliches Lächeln, eher ein schwaches Anheben ihrer Mundwinkel, aber Mulder reichte es.

"Wie spät ist es?"

"Fast zehn." Er schaffte es, das Fach mit Kaffeebohnen zu füllen und schaltete das Gerät ein. "Hast du gut geschlafen?" fragte er, als die Maschine anfing, vor sich her zu brummen und die Bohnen zu mahlen.

"Ja." Ein Gähnen entkam ihr als Gegensatz zu dieser Bestätigung. "Und du?" Es hätte besser sein können, dachte er. "Ja."

"Gut."

Das Brummen hörte auf und es war kurz still, bevor die Maschine ein paar Mal klickte und dann geräuschvoll das Wasser in die Kanne tropfen ließ.

Scully rieb ihre blicklosen Augen und seufzte, doch sagte nichts weiter.

"Hast du Hunger?" Mulder warf einen Blick über seine Schulter auf die Papiertüte auf der Küchentheke. "Ich könnte uns ein paar Brötchen toasten.  Oder Eier braten—ich glaube, da sind welche im Kühlschrank."

"Ich möchte nichts essen. Nur Kaffee."

"Sicher?" Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder zu ihr und bemerkte, dass ihre Haut etwas von ihrem Glanz verloren hatte. "Es gibt auch Müsli. Und jede Menge Milch."

"Ich habe keinen Hunger, Mulder."

"Okay. Vielleicht später, wenn du angezogen bist." Mulder versuchte, die Besorgnis zu verdrängen, die drohte, sich in seinem Bewusstsein breit zu machen.

 

< sieisstnichtssieissteinfachnichtsAppetitlosigkeitisteinAnzeichenvonDepressionen >

 

Ein Themawechsel musste her. "Ich muss jetzt das Geld von den Schützen abholen. Willst du mitkommen?"

 

Sie zuckte die Schultern. "Soll ich?"

Mulder sah sie perplex an. "Was ist das denn für eine Frage?"

 

 

Er reagierte über. Scully konnte es am Ton seiner Stimme hören. "Es ist nur eine Frage, Mulder."

"Ich denke, du kennst die Antwort darauf. Warum sollte ich nicht wollen, dass du mitkommst?"

Die Kaffeemaschine zischte, als der Dampf entwich, was annehmen ließ, dass der Kaffee fertig war. "Fertig?"

"Ja", sagte er und sie hörte wie er den Schrank öffnete, gefolgt vom Klirren von Tassen. "Beantworte die Frage, Scully."

"Ich weiß nicht so recht, ob es auch wirklich sicher ist", erwiderte sie.  Es war frustrierend, dass es in letzter Zeit so schwer geworden war, mit ihm zu kommunizieren. "Wir waren schon oft zusammen draußen, seit wir hier sind. Und es ist einfacher, wenn du alleine gehst und keine neugierigen Blicke auf dich lenkst."

Er antworte nicht gleich darauf, und sie fasste es als ein gutes Zeichen auf. Er war zumindest bereit, es von ihrem Standpunkt aus zu betrachten. Sie hörte auf den Lärm, den er machte, als er den Kaffee vorbereitete und wartete auf seine Antwort.

"Hier", sagte er und Scully griff vorsichtig nach vorne. Ihre Fingerspitzen trafen auf den Griff der Tasse, die sie nahm und vorsichtig hoch hob, um nichts zu verschütten. Der Kaffee roch stark und schwarz und schmeckte mit der richtigen Menge Milch sogar noch besser.

"Ich mag den Gedanken daran nicht, dich allein zu lassen", gab Mulder endlich zu. Er brauchte nichts weiter zu sagen. Sie wusste, was er dachte.

 

< wasistwenndiretwaspassiertundichbinnichthierumdichzubeschützen >

 

Sie wusste es, weil er sie nur ein einziges Mal allein gelassen hatte, seit sie sich nach dem Desaster im Zug wieder gefunden hatten—nämlich als er an ihrem ersten Abend in L.A. gegangen war, um die Schützen anzurufen und das Essen vom Chinesen geholt hatte.

Es war zuviel. Er war einfach pausenlos bei ihr. Sie brauchte Freiraum.

"Ich komme schon klar, Mulder. Geh einfach das Geld abholen und brings Rain vorbei. Es sollte nicht lange dauern."

"Okay", sagte er. "Das sollte es nicht. Und ich bin sicher, dass du zurecht kommen wirst."

Scully nippte noch einmal an ihrem Kaffee und versuchte, den Frust zu ignorieren, der sich in ihrem Inneren breit machte. "Warum habe ich den Eindruck, als ob da jetzt ein 'aber' kommen wird?"

"Verdammt, Scully." Er fluchte während er ausatmete. "Es geht hier nicht um dich. Ich will nicht andeuten, dass du nicht auf dich selbst aufpassen kannst." Er hielt inne und fügte dann hinzu, "Gott verbitte es mir."

"Mulder—" Sie war jetzt wütend, aber er schnitt ihr das Wort ab.

"Was ist, wenn du recht hast?" verlangte er. Seine Stimme verriet nun auch Ärger, ein gedämpftes Brüllen tief in seinem Inneren. "Was, wenn Die uns gesehen haben, gestern oder vorgestern? Was, wenn ich jetzt gehe und Die *mir* folgen? Was dann?"

Scully verstand was er meinte, aber sie wollte noch nicht ganz nachgeben. Sie setzte ihre Tasse ab und legte ihre Hände mit den Handflächen nach unten daneben. "Und? Soll das heißen, dass wenn wir zusammen sind, es Die aufhalten würde? Dass Die weniger Interesse daran haben, uns umzubringen, wenn wir zusammen sind und nicht getrennt?"

Die wollen dich nicht umbringen, erinnerte sie eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Die wollen dich zurück haben.

Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, aber sie ignoriert es.

"Nein, Scully. Das soll es nicht heißen, und das weißt du." Sie fühlte, wie er seine Hände sanft über ihre legte. "Aber ich bin beruhigter, wenn wir zusammen sind. Und wenn wir dadurch leichter bemerkt werden, ist das ein Risiko, das ich bereit bin einzugehen."

Seine Hände waren warm und kräftig. Für einen kurzen Moment war sie versucht, seinen Händedruck zu erwidern, aber siedender Ärger löschte diesen Drang aus. "Also, als du mich gefragt hast, ob ich mitkommen will, hast du mich nicht wirklich gefragt. Du hast bereits entschieden, dass wir zusammen gehen."

Sein Schweigen verriet ihr, dass sie recht hatte.

"Ich weiß nicht, warum mich das jetzt überrascht." Scully zog ihre Hände unter seinen hervor und ballte sie zu Fäusten an ihrer Seite. "So läuft das also, was? So ist es schon immer gelaufen. Du triffst alle Entscheidungen, und ich laufe dir einfach hinterher."

"Scully, nicht—"

"Es ist doch so! Das ist doch der Grund, warum wir überhaupt hier in L.A. sind. Weil *du* gesagt hast, dass wir es so machen." Sie wusste, dass sie lieber aufhören sollte, aber sie konnte nicht anders. Nicht, wenn sie genau wusste, an welchen Strängen sie ziehen musste. "Aber andererseits ist es dein Geld, mit dem unser kleines Abenteuer hier finanziert wird. Also ist es wohl logisch, dass du auch entscheidest, wie wir es ausgeben."

Sie hörte seine Schritte und wusste, dass er um den Tisch herum auf sie zukommt. "Du bist nicht fair, Scully."

Sie wollte nicht, dass er ihr zu nahe kommt, dass er sie anfasst, und sie wich langsam zurück. "Es ist in Ordnung Mulder. Jetzt, wo ich weiß wie's läuft. Jetzt, wo ich die Regeln kenne." Sie atmete tief durch, um ihre wachsende Wut zu kontrollieren. "Ich gehe jetzt besser schnell duschen. Ich will ja nicht, dass du lange auf mich warten musst."

Als sie sich umdrehte und zurück ins Schlafzimmer ging, erwartete sie fast, dass Mulder sie aufhält. Aber er tat es nicht und sagte auch nichts, also ging sie und es begleitete sie nichts weiter als das Geräusch seiner Atemzüge.

 

 

Ein lautes Schimpfwort entwich ihr, als Caitlin auf Händen und Knien nach ihrem Diamantohrring suchen musste. Er war auf dem glatten Holzboden nirgends zu sehen und sie nahm an, dass er bestimmt unter die Kommode gerollt war.

"Verdammt noch mal! Verdammter Mist!" Sie hatte dafür jetzt überhaupt keine Zeit. Sie hätte schon vor einer Stunde im Büro sein müssen, aber ihr Fitnesstraining hatte sich in die Länge gezogen. Die Konferenz sollte in fünfunddreißig Minuten anfangen, und sie musste noch ins Büro, einen Parkplatz finden und ihre Sachen abgeben, bevor sie zu dem Treffen konnte. Sie musste unbedingt pünktlich sein. Sie musste noch zu Starbucks und einen Vanilla Latte holen. Sie musste jetzt wirklich nicht auf allen Vieren auf dem Boden herumkriechen und ein winziges Stück poliertes Gold suchen.

"Vergiss es", murmelte sie und ließ den Ohrring Ohrring sein. Sie nahm den anderen aus ihrem Ohr und wühlte in ihrem Schmuckkästchen nach einem passenden Ersatz. Die tränenförmigen Perlen mit den silbernen Verschlüssen mussten reichen; wenigstens passten sie zu ihrem grauen Anzug.  Sie schlüpfte in ein paar offene Schuhe und schnappte sich Akten- und Handtasche und ihren kurzen schwarzen Trenchcoat. In letzter Minute fiel ihr noch der Regenschirm ein; heute Morgen hatten sie im Radio gesagt, dass es am Nachmittag regnen würde. Und auf dem Nachhauseweg vom Regen wie aus Eimern überrascht zu werden, dafür hatte sie *wirklich* nichts übrig.

Sie hielt für einen Moment inne, während sie durchs Wohnzimmer fegte, um Eloise, ihre Siamkatze, die zusammengerollt auf der Couch lag, zu verabschieden.

"Bye, mein Schatz", sagte sie und lächelte der Katze zu. "Einen schönen Tag wünsche ich dir."

Eloise ließ sich nicht dazu herab, ihr irgendeine Antwort zu geben. Sie blieb still sitzen wie die kleine Königin, die sie war, und zuckte nur leicht mit dem Schwanz.

Caitlin runzelte die Stirn. Dies war einer der Momente, in denen sie sich wünschte, lieber einen Hund gekauft zu haben. "Oder keinen schönen Tag. Ganz wie du willst."

Endlich fertig, ging sie zur Tür. Als sie von außen das obere Schloss der Tür verschlossen hatte, ließ sie ihre Schlüssel fallen und fluchte wieder, als sie versuchte, ihre Sachen zu balancieren, während sie sie aufhob. Sie steckte den Schlüssel in das untere Schloss und riss ihn herum. Dann klingelte auch noch ihr Telefon in ihrer Kate Spade Handtasche. Für einen Moment dachte sie daran, es zu ignorieren, aber dann wollte sie das Risiko doch nicht eingehen. Es könnte ja Tom sein, ihr Vorgesetzter. Oder ihre Assistentin mit einer wichtigen Nachricht.

Oder Brian, der süße Typ, den sie gestern Nacht in der Bar getroffen hatte.

Sie griff in die Tasche, zerrte das Telefon heraus und drückte auf den Sprechknopf. "Hallo?"

"Caitlin?" fragte die Stimme am anderen Ende zögerlich. Zu zögerlich. Darum musste sie sich später noch kümmern.

"Natürlich bin ich es, Suzanne. Wer zum Teufel soll es denn sonst sein?" Es gab nichts, dachte Caitlin, als sie über den Steinweg zur Garage ging, nichts Schlimmeres als eine unfähige Assistentin. "Was willst du?"

"Ähm, Tom", stammelte Suzanne. "Er sucht nach dem Memo für das Disney-Projekt und ich kann es nirgendwo finden."

"Du *kannst* es gar nicht finden, weil es noch gar nicht fertig ist."

Caitlin stolperte, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe gefallen.  Sie blickte zurück und sah einen grünen Wasserschlauch quer über dem Weg liegen. Sie trat ihn zur Seite und verfluchte innerlich den Gärtner. "Also, weißt du, was du machen musst?"

"Was?"

Caitlin wollte ihr schon antworten, aber sie zögerte für eine Sekunde, als ihr Blick auf das Fenster der Wohnung gegenüber fiel. Der Mann, den sie am Vorabend zusammen mit Rain das Gebäude betreten sah, lehnte mit den Ellbogen auf dem Küchentisch, sein Gesicht in seinen Händen vergraben.

Was zur Hölle... Sie hielt für einen Moment an und beobachtete ihn, all ihre eigenen Plänen für den Augenblick vergessen. Etwas an seiner Körperhaltung ließ ihn zugleich unglaublich traurig und unglaublich einsam erscheinen.

"Caitlin? Was soll ich machen?"

Suzannes Gequengel brachte sie wieder zurück in die Realität. Caitlin drehte sich weg und wandte sich dem Weg zur Tiefgarage zu. Er ist wahrscheinlich so deprimiert, weil ihm der Stoff ausgegangen ist, dachte sie, als sie die Stufen hinab stieg. Sie legte ihre Gedanken an den Mann weg und fauchte ins Telefon, "Du sollst ihn *hinhalten*! Das sollst du machen! Muss ich dir denn alles vorkauen?"

 

Caitlin erreichte ihren Wagen und warf ihre Sachen auf den Rücksitz. Sie setzte sich hinters Steuer und raste mit quietschenden Reifen und dem Telefon immer noch an ihrem Ohr aus der Garage.

 

 

 

 

 

 

STADTGRENZEN  Kapitel 5

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

9/1/99

 

Es war langsam schwer zu glauben, dass es immer noch keine schlüssigen Beweise gab. Keine Hinweise, keine Tipps. Nichts. Einfach gar nichts.

Assistant Director Walter Skinner schob den Stapel Papier beiseite, den er gelesen hatte, hob mit zwei Fingern seine Brille von der Nase und massierte den Knorpel, auf dem sie gesessen hatte. Er hatte Kopfschmerzen, die genau hinter seinen Augen hämmerten, und er wusste, dass der enorme Schlafentzug der letzen Zeit allmählich anfing, an seiner Gesundheit zu nagen.

In der Woche seit seinem Trip nach Texas war er mit nichts anderem beschäftigt gewesen, als mit der Suche nach Informationen und Antworten, doch bis jetzt stand er mit leeren Händen da. Nichts Handfestes, nichts Aussagekräftiges. Er war jeden Bericht durchgegangen, war jeder möglichen Sichtung nachgegangen und hatte jedes Bisschen an Hinweisen verfolgt. Doch nichts davon hatte etwas ergeben.

Er hatte keinen blassen Schimmer, wo Fox Mulder und Dana Scully sein könnten. Und das war unglaublich frustrierend.

"Zwei Leute", murmelte Skinner zu sich selbst. "Zwei Leuten können doch nicht einfach so von der gottverdammten Bildfläche verschwinden."

Doch soweit er das beurteilen konnte, war genau das passiert. Wenigstens waren vor der Sache in El Paso Kleinigkeiten an Informationen und Daten zu ihm durchgesickert. Der Tatort in New Orleans zusammen mit den Hinweisen aus dem Apartment schienen der ultimative Durchbruch gewesen zu sein und Mulders Verhaftung hatte wie das definitive Ende einer ewig langen Suche ausgesehen.

Aber seit El Paso hatte er nichts mehr. Null. Nix. Kein Stück.

Skinner wurde den Verdacht nicht los, dass er mit Absicht blockiert wurde. Verdammt, sein zigaretterauchender Widersacher hatte Schlimmeres auf dem Kerbholz als bloßes Zurückhalten von Informationen. Es war fast anzunehmen, dass er es jetzt auch tat. Das machte die Sache schwerer, aber nicht unlösbar. Der Mann konnte Wahrheiten vertuschen und Lügen erfinden, aber er konnte nicht alles kontrollieren. Es musste etwas geben, das zwischen die Ritzen gedrungen ist.

Walter Skinner musste einfach genau das finden.

Das Interkom auf seinem Schreibtisch summte und das laute Geräusch riss ihn aus den Gedanken. Genervt drückte er auf den Empfängerknopf. "Ja?"

Es war Holly, seine Sekretärin, deren Stimme sich im Lautsprecher fast verlor. "Da ist eine Margaret Scully auf Leitung drei, Sir. Möchten Sie den Anruf entgegennehmen?"

Skinner seufzte tief. Möchte er den Anruf entgegennehmen? Nein, zum Teufel.

"Danke, Holly."

Er wartete einen Moment bevor er den Hörer an sein Ohr hob. "Hallo?"

"Hallo, Walter", sagte sie zögernd und leise. "Es tut mir leid, dass ich Sie störe—sicher sind Sie sehr beschäftigt."

"Nein, das ist schon in Ordnung." Er schwieg für eine Sekunde. "Ich wollte... ich wollte Sie bereits anrufen."

"Gibt es etwas Neues?"

"Nein, nein." Skinner beeilte sich, sie vor falschen Hoffnungen zu bewahren. "Nichts neues, zumindest nichts Handfestes. Ich wollte Sie wenigstens das wissen lassen." Gott, dachte er, immer die richtigen Worte finden. Er räusperte sich. "Was ich sagen wollte ist, dass obwohl wir im Moment nichts Definitives haben, schöpfen wir alle Informationen und Hinweise, die wir haben, aufs letzte aus. Wir haben Teams von Agenten darauf angesetzt und arbeiten mit der Polizei zusammen. Wir sollten...  ich bin mir sicher, dass wir sehr bald mehr wissen."

Sie antwortete nicht sofort und Skinner grübelte, was sie wohl dachte.  Nicht zum ersten Mal war er erleichtert darüber, dass Margaret Scully nicht wusste, dass ihre Tochter zu alledem höchstwahrscheinlich blind war. Es schien ihm, als ob dieses Wissen zu viel für sie sein würde.

"Gut", sagte sie dann. "Ich meine, ich hoffe es. Ich hoffe, dass Sie bald Neuigkeiten haben."

"Das werden wir", versicherte Skinner ihr mit einer Zuversicht, die er nicht besaß. "Das werden wir ganz bestimmt. Wir müssen nur Geduld haben."

Er sagte das, um sie zu beruhigen, aber er wollte sich selbst auch beruhigen. Er wusste, dass Margaret Scully Geduld hatte—und Glauben—den Glauben einer Heiligen.

"Ich weiß", sagte sie. "Ich tue mein Bestes. Und ich weiß, dass Sie alles tun, um sie zu finden und zurück zu bringen." Sie hielt inne und fügte dann hinzu, "Das bedeutet mir sehr viel. Was Sie für Dana tun bedeutet mir sehr viel. Und für Fox."

"Sie sind sehr gute Agenten", sagte er. "Und gute Menschen. Ich kann es nicht ertragen, dass sie so verfolgt werden."

"Gibt es etwas, das ich... das ich tun könnte, um zu helfen?"

Skinner wünschte, dass er ihr etwas sagen könnte. Irgendeine Aufgabe, die er ihr geben könnte, um die schwere Bürde des Wartens zu lindern. "Nein. Wir haben alles unter Kontrolle. Lassen Sie uns nur wissen, wenn Sie von einem von beiden etwas hören, ganz egal was."

"Das werde ich", sagte sie. "Vielen Dank, Walter. Danke, dass Sie mich auf dem Laufenden halten."

"Natürlich. Ich melde mich bald wieder bei Ihnen."

Skinner legte auf mit der Hoffnung, dass er ihr beim nächsten Mal etwas mehr sagen konnte.

 

 

 

 

Mulder stellte seine Kaffeetasse in die Spüle und überlegte, ob er sie gleich spülen sollte. Doch er ließ es bleiben. Für eine Tasse würde sich das Spülen nicht lohnen.

Er konnte die Spannung, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, nicht ausstehen. Vielleicht hat sie recht, sagte eine immer präsente Stimme in seinem Kopf. Vielleicht *bist* zu ja zu kontrollierend. Es geht hier um sie, nicht um dich. Vergiss das nicht.

Doch der Punkt war, dass alles, was er machte, er für sie tat. Doch vielleicht packte er es nicht richtig an. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, den Termin bei Dr. Bard sausen zu lassen. Sie würden vielleicht nie wieder so eine Chance bekommen. Verdammt, sie würden vielleicht jetzt nicht einmal eine bekommen. Es gab keine Garantie.

Was Mulder wirklich wollte war, alle Pros und Contras gegeneinander abzuwägen. Die Situation zu analysieren und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das Problem war nur, dass sich sein bester Gesprächspartner in Schweigen gehüllt hatte. Womit er schließlich sich selbst überlassen blieb.

Sei vorsichtig, warnte ihn die Stimme. Dränge sie nicht. Aber wenn ich es nicht tue, wer tut es dann?

Wieder sah Mulder auf die Uhr und beschloss nach Scully zu sehen. Er ging aus der Küche in den Flur, und als er sich dem Schlafzimmer näherte, hörte er wie im Badezimmer Wasser lief. Leise betrat er den Raum, in dem der Teppich seine Schritte dämpfte. Die Badezimmertür war nur angelehnt und er schob sich vorsichtig hinein.

Scully stand drinnen mit von der Dusche nassen Haaren, nur mit einem BH und einer Jeans bekleidet. Über das Waschbecken gebeugt war sie gerade dabei, sich das Gesicht zu waschen. Mulder sah still zu, wie sie Wasser auf ihre Haut spritzte. Als sie fertig war, tastete sie nach dem Handtuch, das auf der Ecke der Ablage lag. Sie fand es und trocknete ihr Gesicht.

Dann nahm sie das Handtuch herunter und behielt es in einer Hand. Mit der anderen strich sie sich einige Strähnen aus ihrer Stirn und seufzte tief und lang. Mulder fühlte sich ein wenig schuldig ob seines voyeuristischen Benehmens, wohlwissend, dass das fließende Wasser das Geräusch seiner Atemzüge übertönte, aber er konnte einfach nicht weg sehen.

Das nächste, was sie tat, kam für ihn völlig unerwartet. Scully streckte ihre freie Hand vor sich aus und berührte mit den Fingern den Spiegel über dem Waschbecken. Sanft strich sie über das Glas, als ob sie ihr eigenes Spiegelbild streicheln würde.

Mulder schluckte. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals, als er ihrem Spiegelbild in die Augen sah, in denen er nichts als Leere sehen konnte. Er fühlte den wohlbekannten Stich im Herzen, als er sich fragte, was sie in diesem Moment wohl dachte.

Er war so in diesen Gedanken versunken, dass er kaum mitbekam, dass sie das Handtuch sinken ließ und das Wasser abstellte. Der Raum war nun völlig still und schon eine Sekunde später drehte sie sich zu ihm um.

"Mulder?"

Er zuckte, als er sah wie sie ihre Arme hob und sie vor ihrer Brust verschränkte. Er hasste es, dass sie sich durch seine bloße Anwesenheit verletzlich fühlte.

"Ja", druckste er. "Ich war nur... ich wollte nur sehen, ob du fertig bist."

"Ich bin gleich soweit", antwortete sie und tastete nach der Tür. Resolut machte sie sie zu und Mulder war wieder allein. Sie schloss ihn immer noch aus.

Und trotzdem formte sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, als er zu verstehen begann.

Sein unerlaubtes Spähen hatte etwas äußerst Wichtiges eingebracht. Es war nicht so, dass Scully nicht zu Dr. Bard wollte. Soviel war klar. Sie schien aus irgendeinem Grunde nur nicht den Nerv dazu zu finden.

Meine tapfere Scully, dachte er. Du hast genug Mut für uns beide. Man muss dich nur immer wieder daran erinnern.

Mulder ging zum Bett, setzte sich drauf und wartete. Er überlegte bereits, wie er es am besten angehen konnte. Er musste einen Weg finden, sie zu beruhigen, sie wissen zu lassen, dass sie nichts zu fürchten brauchte. Sie daran zu erinnern, dass er immer an ihrer Seite bleiben würde, jeden Schritt ihres Weges. Ganz egal, was passierte.

Ich bin für dich da, Scully, dachte Mulder. Du musst mich nur lassen.

 

 

 

Rain stimmte zwei Saiten an und hörte, wie der Klang zum Refrain des Textes passte. Sie runzelte die Stirn. Es hörte sich viel zu melancholisch an, sogar für ihre Ohren. Möglicherweise begann das Problem schon mit der Tonart Moll. Es wäre vielleicht besser, ganz anders anzufangen.

Das Telefon klingelte und störte sie in ihrer Konzentration. Sie blickte sich suchend um, aber das schnurlose Telefon war nirgends zu sehen. "Scheiße." Sie legte ihre Gitarre ab und rumorte im Studio zwischen Klamotten und Musikzeitschriften herum.

Sie fand es beim fünften Klingeln und drückte den Knopf. "Hallo?"

"Hey Girl, was geht ab?"

Rain seufzte. Tyrone war gesprächig drauf und sie wusste, was das bedeutete.  Er würde sie mit Storys zuschütten über alles Mögliche, das passiert war, nachdem sie lange vor ihm und Cedric im Club 80s gegangen war. Und wenn er so viel Atem wie gewöhnlich hatte, konnte sie ihre Gitarrenstunde für heute abschreiben. Vielleicht würde sie pünktlich zur Arbeit kommen—wenn sie Glück hatte.

"Nicht viel", antwortete sie. "Ich spiele nur ein bisschen, bevor ich zur Arbeit fahre. Was machst du?"

"Ich erhole mich", sagte Tyrone mit einem Gähnen. "Mit Cola Light. Kaum zu glauben, dass es schon so spät ist." Er wartete einen Moment und fragte dann, "Hast du schon was gehört?" Rain wusste nichts so richtig mit dieser Frage anzufangen. "Gehört, von was?"

"Von diesen Leuten. Rick und Lisa. Hast du schon von ihnen gehört?"

"Natürlich nicht", erwiderte Rain. "Ich meine, sie haben ja nicht gerade meine Telefonnummer. Außerdem habe ich sie doch erst gestern in die Wohnung gebracht. Ich brauche ja nicht alle Nase lang nach ihnen sehen."

"Hm", machte Tyrone und Rain hörte ihn ausatmen. Sie wusste, dass er eine seiner immer präsenten Zigaretten rauchen musste. "Vielleicht solltest du's aber."

"Vielleicht solltest du nicht so paranoid sein. Das steht dir nicht."

"Okay Girl, aber ich will nicht derjenige sein, der dir sagen muss 'Ich hab's dir doch gesagt', wenn du am Ende alt aussiehst", warnte er ernsthaft.

Langsam, fand Rain, wurde dieses Gespräch ungemütlich. "Ich sehe sie gleich, wenn dich das beruhigt. Sie kommen gleich ins Motel, um mir den Rest des Geldes zu geben."

"Den *Rest* des Geldes?" Tyrone war geschockt und es hallte in der Leitung wider. "Sie haben dir nicht das ganze do-re-mi gegeben, als du ihnen die Schlüssel gegeben hast?"

"Tyrone, halt die Klappe!" Rain platzte jetzt der Kragen. "Ich mach das schon. Ich habe alles im Griff." Doch insgeheim fragte sie sich, ob das wirklich stimmte.

 

 

Scully rückte näher zu Mulder. Sie fürchtete, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, weil sie in der Bank ihre Sonnenbrille trug. Und das mitten im November. Die Western Union Bank war ziemlich voll, und es standen Leute um sie herum, die schrecklich und ungewaschen rochen.

Sie hasste Los Angeles wie nichts anderes.

"Wie lange noch, Rick?" fragte sie. Es kam ihr vor, als würden sie schon Ewigkeiten in dieser Schlange stehen.

"Wir sind die nächsten", beruhigte Mulder sie. "Noch ein paar Minuten und wir sind hier raus."

Als sie endlich dran kamen, war Scully froh, dass die Transaktion recht flott vorüber war. Sie hörte, wie Mulder das Geld abzählte und die Quittung unterschrieb, dann ließ sie sich von ihm beim Arm nehmen und hinaus auf die Straße führen.

"Wir haben ein Telegramm mit dem Geld bekommen", sagte er, als sie auf der Straße waren mit absichtlich leiser Stimme.

"Was steht drin?"

"Ich soll sie anrufen. Ich denke, sie werden's mir dann sagen."

Auf der Suche nach einem mit Glas geschützten Telefon gingen sie noch ein paar Blocks weiter an ihrem parkenden Auto vorbei, doch leider fanden sie keines.

"Ich glaube, wir werden das hier an der Ecke benutzen müssen", sagte Mulder leicht resigniert.

"Ist es sicher?"

Sie konnte fast hören, wie er die Schultern zuckte. "Sicher genug. Bleib aber trotzdem dicht neben mir."

Scully tat nichts lieber als das. Der Lärm des Verkehrs war laut und sie wurde andauernd von irgendwelchen Passanten angerempelt. Jedes Mal, wenn sie wieder viel zu dicht an jemandem vorbei ging, erwartete sie fast, beim Arm gepackt und in die nächste Seitenstraße gezerrt zu werden, wo bereits ein parkender Van auf sie wartete.

Du machst dir selbst unnötig Angst, schimpfte sie mit sich selbst und versuchte, Haltung zu bewahren.

Sie hörte, wie Mulder die Münzen einwarf, die klappernd in den Schacht fielen, so dass sie das Piepen der Wähltasten fast übertönten. Mulder ratterte eine zehnziffrige Nummer herunter und legte dann auf. Augenblicke später klingelte es.

Scully hörte auf Mulders Teil des Gesprächs, doch außer "ja" und "gut" und "okay" sagte er nicht viel. So sehr sie es versuchte konnte sie nicht hören, was die Schützen am anderen Ende sagten.

Als sich das Gespräch zum Ende zu neigen schien, sagte sie, "Grüß' sie von mir."

Mulder tat es, fügte noch ein paar "okays" hinzu und legte wieder auf.  "Also", sagte er und nahm sie wieder beim Arm, "sieht aus, als ob die Sache läuft."

Seine Worte ließen sie innerlich zusammenzucken. "Und das heißt?"

"Das heißt, dass wir einen Termin bei dem Arzt haben. Morgen um 10.45 Uhr." Er lehnte sich zu ihr und sagte ihr leise ins Ohr, "Wir müssen noch ein paar Unterlagen bei der Post in der Nähe unserer Wohnung abholen."

"Wunderbar", sagte sie mit erzwungenem Enthusiasmus, den sie nicht hatte.

Als sie am Auto waren, wartete Scully, bis Mulder aufgeschlossen und ihr hinein geholfen hatte. Als ihre Tür zu war, nahm sie die Sonnenbrille ab und schloss für einen Moment mit einem tiefen Seufzen die Augen.

Du schaffst das schon, dachte sie. Du wirst damit schon fertig.

Sie machte die Augen wieder auf, als sie hörte wie Mulder die Fahrertür öffnete. Er rutschte in den Sitz, der hörbar knarrte, und knallte die Türe zu. Sie hörte wie er die Schlüssel drehte und der Motor anlief und war dann überrascht, als Mulder seine Hand auf ihre legte.

"Wir haben's bald geschafft, Scully." Seine Stimme klang freudig und aufgeregt. "Es wird alles wieder in Ordnung kommen". Er beugte sich zu ihr und sie roch den sauberen Geruch seiner Haut, als er sie sanft küsste. "Das verspreche ich."

Als er zurück zog, tat Scully ihr bestes, um zu lächeln, denn sie wusste, dass er sie ansah. Sie hoffte mit ganzem Herzen, dass er Recht behalten würde.

 

 

 

Der Mann starrte auf das Gebilde, das er sich auf der Wand seines Büros anfertigen lassen hatte. Es war im Grunde eine Karte der Vereinigten Staaten, auf der eine Reihe von gestrichelten und durchgezogenen Linien eingezeichnet worden waren. Alle Linien gingen von ein und demselben Punkt aus—von einem Bus Depot in Alburquerque, New Mexiko.

Er war überrascht, als er sah, wie viele verschiedene Linien es auf dem Plan gab. Er hätte weder erwartet, dass so viele Busse an einem Sonntag durch diese Stadt fahren würden, noch, dass diese Busse so viele Ziele anfuhren. Alburquerque musste wohl eine größere Anlaufstelle im Süd-Westen der Staaten sein.

Trotzdem war es nicht allzu beunruhigend. Er hatte genug Leute, um die verschiedenen Spuren zu verfolgen. Er wünschte nur, die Suche auf eine kleinere Gegend einengen zu können. Doch während der ungeplanten Interrogation der drei Bewohner des Farmhauses hatte sich herausgestellt, dass Mulder und Scully keinerlei Hinweise darauf hinterlassen hatten, wohin sie fahren würden.

Wenn sie wenigstens den Bus gesehen hätten, in den sie eingestiegen waren, grübelte er und fragte sich für einen unsicheren Moment, ob es die jungen Leute nicht geschafft hatten, ihm etwas zu verheimlichen. Das war jedoch sehr unwahrscheinlich. Der Mann wusste, dass er sehr gute Überredungsarbeit leistete.

Jetzt, ohne ein bestimmtes Ziel, das ihm bei der Suche helfen würde, musste der Mann seine Leute über alle Routen verteilen. Allerdings sagte ihm etwas, dass Mulder und Scully nach den Vorfällen in New Orleans nicht so bald wieder gen Osten oder Süden fahren würden, und das ließ nur noch zwei Richtungen offen: nach Norden, in Richtung Kanada, oder weiter in den Westen, nach Kalifornien. Bei beiden Möglichkeiten gab es unterwegs Unmengen von Haltestellen. Der Mann würde nicht ruhen, bevor er sie nicht alle abgesucht hatte.

Und bis es soweit war, würde er weiter am Köder seiner Falle basteln.

Wenn ich euch schon nicht finde, dachte er schadenfroh, werde ich wenigstens dafür sorgen, dass ihr freiwillig wieder zurück kommt.

 

 

 

"Morgen, Louie", rief Rain, als sie die Motel-Lobby betrat. Der Empfang war jedoch nicht besetzt und sie erhielt keine Antwort. "Louie?"

"Ich bin hinten", kam die Antwort. "Eine Sekunde!"

Rain zuckte die Schultern und tastete nach dem Knopf für die Schwingtür.

Sie fand ihn und konnte begleitet von einem lauten Klingeln eintreten. Hinter dem Empfang angekommen nahm sie ihren Rucksack ab und kletterte auf den Stuhl, um ihr bescheidenes Reich zu begutachten.

Auf dem Tisch lagen einige Nachrichten und in der Ecke ein Stapel unsortierter Post. Sie seufzte und fragte sich, ob hier überhaupt etwas gemacht würde, wenn sie sich irgendwann dazu entschloss, nicht mehr zu kommen. Sie fing an, die Nachrichten in die dazugehörigen Fächer zu stecken, aber nicht ohne jede einzelne nach etwas Interessantem oder Ungewöhnlichem zu überfliegen.

"Du bist früh dran", verkündete Louie, als er aus dem Hinterzimmer kam.  "Was ist los? Irgendein nationaler Feiertag? Oder willst du vor Ende deiner Schicht wieder abhauen?"

"Weder noch", sagte Rain. "Bin heute einfach mal 'was früher. Ist das ein Verbrechen?"

"Zur Hölle, nein", grinste er. "Das heißt, ich kann jetzt die Fliege machen, find ich cool."

Rain grinste zurück und betrachtet ihn von oben bis unten. Das T-Shirt, das er an hatte, hatte sicher schon einmal bessere Tage gesehen. Sie würde wetten, dass er darin geschlafen hatte. Und auf einem Knie seiner Jeans waren Flecken von etwas, das ganz nach Kaffee aussah. "Louie, mein Alter, du siehst schlimm aus."

Louie zuckte die Schultern und hob die Hände, Handflächen nach oben. "Hab' ich 'nen Grund, mich hierfür fein zu machen?"

Sie ließ sich lieber nicht auf eine Diskussion ein und sagte, "Los, geh schon. Ich komm' hier klar."

"Ich weiß, Schätzchen. Ich weiß." Er zwinkerte ihr zu und machte sich auf in Richtung Tür. "Du weißt, wo du mich finden kannst, wenn nötig."

"Stadtbibliothek", witzelte sie. "Ich hab' die Nummer hier stehen."

Mit einer galanten Handbewegung rauschte Louie aus der Tür und machte sich auf den Weg zur Bar unten in der Straße.

"Die Happy-Hour fängt offiziell erst um fünf an, nicht um drei", murmelte Rain zu niemand bestimmten und begann, die Post zu sortieren.

Eine Viertelstunde später war die Post erledigt, alle Schlüssel waren auf ihren Haken an der Wand und Rain langweilte sich zu Tode. Sie trommelte mit den Fingern ziellos auf dem Tisch herum und kramte dann in ihrem Rucksack nach ihrem Notizblock.

Als sie wieder aufsah, standen Rick und Lisa vor ihr am Empfang. Rain erschrak leicht, denn sie hatte sie gar nicht kommen hören. "Hi, Leute", begrüßte sie sie. "Schön, Euch zu sehen. Wie ist die Wohnung?"

"Toll", sagte Rick mit einem Lächeln. "Richtig klasse."

"Sie ist Spitze, was?" grinste Rain. Er sah auf eine ungewöhnliche Art so gut aus, die Rain wirklich gut gefiel. Sogar in den Klamotten, ein abgegriffener Windbreaker, Jeans und Pullover, sah er fabelhaft aus.

"Was ist mit dir, Lisa?" fragte sie und blickte auf die zierliche Frau neben ihm. "Gefällt dir die Wohnung?"

Lisa nickte und lächelte eines ihrer scheuen Lächeln, ihre blauen Augen leer. "Es ist nett. Danke noch einmal, dass wir dort wohnen dürfen."

"Die Bude ist echt cool", freute sich Rain und fragte sich, wie diese beiden bloß zusammengefunden hatten. Es war nicht so, dass Lisa nicht hübsch war, das war sie, besonders mit Cedrics neuem Haarschnitt. Aber sie schien Vergleich zu Rick so still und zurückhaltend, so konservativ und 'normal' in ihrem blauen Mantel und Khakis. Rain hasste nichts mehr als 'normal', aber wenn Rick drauf stand, konnte sie auch nichts daran ändern.

Rain schob den Gedanken beiseite und kam zum Geschäft. "Habt ihr mein Geld dabei?"

"Ja, hier", sagte Rick und blickte sich vorsichtshalber um, bevor er sein Portemonnaie auf machte. Er zog ein Bündel Scheine heraus und reichte es ihr über den Tisch. Rain nahm sich einen Moment, um es zu zählen. Obwohl sie es nicht zugeben wollte, hatte sie Tyrones Anruf nervös gemacht. Aber nur ein wenig.

Doch die Summe war vollständig wie abgesprochen, und sie steckte es grinsend in ihre Hosentasche. "Das wäre erledigt", sagte sie zufrieden. "Bis nächsten Mittwoch habt ihr bezahlt. Viel Spaß dann!"

"Werden wir haben", versicherte Rick ihr und griff mit einer Hand nach Lisas Arm. "Aber, wie gesagt, das bleibt unter uns."

"Kein Problem", sagte Rain. "Mir liegt genauso viel daran, dass das nicht die Runde macht. Das letzte, was ich brauche, ist ein stinksaurer Justin."

Er sah ihr für einen langen Moment in die Augen. "Gut", sagte er dann. "Bis später."

"Ja, bis später", echote Rain und sah ihnen nach, wie sie durch die Tür auf die Straße gingen. Als sie außer Sichtweite waren, nahm sie wieder das Geld aus der Tasche und zählte es noch einmal, nur so zum Spaß, mit einem wachsenden Grinsen auf ihrem Gesicht.

 

*ende von kapitel fünf*

 

 

Anmerkung von dana d. : Liebe Leute, das ist leider alles, was sie schrieb. Diese Geschichte ist seit der Veröffentlichung des letzten Teils im Jahre 1999 unvollendet. Soweit ich weiß, kann man die Autorin, Nicole Perry, über ihre angegebene Emailadresse nicht mehr erreichen. Trotzdem sie sich zwischendurch in all den Jahren zu Wort gemeldet haben soll, hat sie diese faszinierende Geschichte nie beendet. Wird das Treffen mit Dr. Bard stattfinden? Wird er Scully helfen können? Was wird passieren, wenn Justin ungeplant früher zurückkehrt und die beiden in seiner Wohnung vorfindet? Was hat es mit Caitlin auf sich? Und was mit dem Köder für die Falle, die der Raucher vorbereitet?? Die Fortführung und das Ende der Road Story ist ganz unserer Vorstellung überlassen.

Für mich war es ein Traum, diese Geschichte zu lesen. Über die Jahre lese ich sie immer mal wieder gerne – zuletzt nun bei der Überarbeitung meiner Übersetzung im Jahre 2017.