RICHTUNG NIRGENDWO 1

(Originaltitel: Goin' Nowhere)

von Nicole Perry

( nvrgrim@aol.com )

 

Datum: 15. Dezember 1995

 

aus dem Englischen übersetzt von dana d. < hadyoubigtime@netcologne.de >

*** überarbeitet 2017 ***

 

Wort der Autorin: Dies ist eine dunkle Story, die ich sehr liebe und die verrückte Idee dazu ging mir seit heute morgen nicht mehr aus dem Kopf. Ich konnte es gar nicht erwarten, nach Hause zu gehen und sie zu schreiben. Ein Dankeschön und große Anerkennung möchte ich an dieser Stelle an Amy Schatz richten, deren Story "Run Away" mich zu diesem Szenario inspiriert hat, und außerdem an die Kellnerin, die mir heute morgen das Frühstück serviert hat.  Sie war die Inspiration für Raeanne. Ich weiß noch nicht, ob dies hier bloß eine Kurzgeschichte ist oder der Anfang einer längeren (...) Ich würde liebend gerne wissen, was Ihr von diesem ungewöhnlichen Szenario haltet...  Kommentare, Kritik und Komplimente bitte an nvrgrim@aol.com

 

Dementi: Ich bin wie immer dem unglaublichen Chris Carter und dem großzügigen Sender Fox dafür zu tiefstem Dank verpflichtet, dass ich mit den wundervollen Charakteren, die sie geschaffen haben, verrückt spielen kann - Ich leihe sie mir nur aus, genau wie jeder andere. Ein spezielles Dankeschön an Chris Isaak für den Titel und an Pete Droge für die Musik, die mir hierzu verholfen hat...

 

 

 

RICHTUNG  NIRGENDWO  

von Nicole Perry nvrgrim@aol.com

 

 

Raeanne seufzte und steckte sich ihre langen blonden Haare wieder in einen Zopf zusammen. Sie blickte auf die Kaffeeflecken auf der Theke, die sie mit einem Grummeln wegwischte und machte sich an die Kaffeemaschine, um neuen Kaffee aufzusetzen. Als sie die Reste des alten Kaffees in die Spüle schüttete, wanderte ihr Blick ziellos durch das kleine Diner und streifte einige Kunden, die still miteinander redend an einigen der Tischen saßen. Jim McAllister saß wie immer alleine an dem hintersten Tisch in der Ecke und aß zeitunglesend sein Teilchen, bevor er sich wieder auf in einen neuen friedvollen Tag in der kleinen Stadt aufmachte. Anders als McAllister waren Raeanne die anderen Kunden fremd, was ja nicht ungewöhnlich war. Jake's Diner war das einzig wirkliche Restaurant in diesem abgelegenen Teil von Nebraska, und die meisten Leute, die hier erschienen, waren nur auf der Durchreise.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Raeanne, eine von diesen Menschen zu sein.

Sie beklagte sich zwar nicht über ein schlimmes Leben, nur die alltägliche Routine war langweilig und... eben alltäglich. Ihr Freund war in seinem letzten der vier Jahre in der Armee und immer, wenn die Routine zu ermüdend wurde, hielt sie an dem Versprechen fest, das er ihr gemacht hatte: dass er mit ihr umziehen wolle und irgendwo ein neues Leben beginnen wolle, irgendwo, wo es neu und anders war und sie nicht die nächsten neunzehn Jahre ihres Lebens verbringen musste.

Ein lautes Klappern ertönte hinten in der Küche und Raeanne lächelte in sich hinein. Lizzie war wohl wieder am Werk. "Schmeißt du wieder alle Pfannen durcheinander?" rief sie und hatte Mühe das Lachen aus ihrer Stimme zu halten.

"Verdammt, Rae", rief Lizzie. Sie war sichtlich genervt. "Er kann die Sachen nie vernünftig zurückstellen."

'Er', Lizzies Ehemann, dem das Diner gehörte und nach dem es benannt war, kam gerade durch die Türe. "Lizzie, stell dich nicht so an", sagte Jake und fing an, sich in der Spüle die Hände zu waschen. "Das ist doch bloß Geschirr."

"Für dich vielleicht", sagte Lizzie. "Du musst ja nicht kochen."

Raeannes Grinsen breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus. Wieder ein neuer Morgen, wieder alles beim Alten.

"Morgen, Jake", grüßte Raeanne, löffelte noch etwas mehr Kaffee in den Filter und machte die Maschine an.

"Morgen, Rae", grüßte Jake zurück und lächelte ihr zu. Jake war fast wie ein Vater für sie, obwohl er schon fast alt genug war, um ihr Großvater zu sein. "Wie läufts?"

Immerzu dieselbe Frage, immerzu dieselbe Antwort. "Gut, wie immer."

Jake nickte. "Ich werde dann mal herunter in den Supermarkt gehen und noch etwas Milch holen."

Raeanne war klar, dass dies das Letzte war, das sie brauchten - Jake ging jeden Morgen in dem Supermarkt, um den neusten Klatsch und Tratsch zu hören, den er den Abend zuvor verpasst hatte. "Ja, tu das", erwiderte sie.  "Lizzie und ich kommen schon klar, während du weg bist."

Jake nickte abermals und putzte sich die Hände an seiner abgetragenen Jeans ab. "Bis später", sagte er und machte sich auf den Weg.

Ein Gast winkte Rae zu sich und sie füllte ihm noch etwas Kaffee nach und brachte ihm die Rechnung. Dann ging sie von Tisch zu Tisch, nahm Bestellungen auf und schenkte Kaffee ein. Alltag.

Die Klingel über der Tür ertönte und Rae wandte ihren Kopf, um zu sehen, wer gekommen war.

Ein großer, schlanker Mann in Jeans und einem langärmligen Hemd hielt die Tür auf. Sein Haar war etwas zerzaust und über dem Bart konnte sie müde Augen sehen. Mit seinem anderen Arm half er einer Frau die zwei Treppen in das Diner hinein. Sie war klein, fast zwei Köpfe kleiner als er. Sie trug ebenfalls Jeans und eine verblichene Strickjacke über ihrem weißen T-Shirt.  Ihr Haar war dunkel und es sah neben ihrer blassen Haut fast schwarz aus.  Sie hatte große blaue Augen, die aber irgendwie unklar waren, und als sie durch die Tür stolperte, erkannte Rae mit Schrecken, dass sie blind war.

Der Mann führte sie geschickt zu einem der nächsten Tische und beobachtete dabei aufmerksam die anderen Gäste im Diner. Raeanne glaubte, eine gewisse Nervosität bei dem Mann zu sehen, aber als keiner der anderen Leute ihm große Beachtung schenkte, schien er sich zu entspannen. Sobald die Frau auf ihrem Platz war, zog er einen Stuhl für sich selbst heran und nahm auf dem Tisch ihre Hand.

Raeanne trat voller Neugier, die sie sich nicht erklären konnte, näher. Es gab da etwas an diesem Pärchen, etwas Andersartiges und Seltsames. Sie war völlig aufmerksam, doch sie wusste nicht, warum gerade jetzt.

"Guten Morgen", sagte sie und holte ihren Notizblock hervor. "Was darf ich Ihnen bringen?"

Der Mann sah die Frau an, die nicht antwortete. Ihre Augen waren leer.  "Kaffee - koffeinfrei", sagte der Mann. "Ein paar Rühreier... und Toast, bitte." Die Frau schwieg immer noch. "Lisa?" fragte er. "Was möchtest du essen?"

Raeanne fragte sich, ob die Frau überhaupt sprechen konnte, bis sie leise antwortete. "Für mich dasselbe. Und einen Orangensaft, bitte."

Raeanne nickte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. "Kommt sofort." Sie wollte sich bereits umdrehen, als eine kleine Hand sie mit sanftem Griff an ihrem Arm aufhielt.

"Könnten Sie..." die Frau sprach ruhig und bemessen, als ob sie die Frage kaum stellen könnte. "Könnten Sie mir bitte den Weg zur Damentoilette zeigen?"

"Sicher." Raeanne beobachtete, wie die Frau vorsichtig aufstand, ihre Hand immer noch auf Raeannes Arm. Raeanne blickte zu dem Mann, der zustimmend nickte und begann dann, die Frau zu der Tür am anderen Ende des Raumes zu führen. Die Frau schien sehr zierlich neben Raeanne, die auch nicht gerade besonders groß war. Ihr Griff war leicht aber standhaft, und Raeanne bemühte sich sehr, sie zwischen den Tischen hindurch zu manövrieren. Sie sah auf die Frau herunter und merkte, dass sie mit konzentrierter Stirn die Schritte zählte.

Sie erreichten die Türe und Raeanne drückte sie auf. Sie führte die Frau zur ersten Toilette und hielt dort zögernd an. "Möchten Sie... möchten Sie, dass ich hier warte?" fragte sie.

"Nein", sagte die Frau. "Ich finde mich von hier schon zurecht."

Raeanne kehrte in das Restaurant zurück und übergab Lizzie die Bestellung.  Während sie die anderen Gäste bediente, schweifte ihr Blick immer wieder zu dem Mann, der seine Augen nicht von der Tür der Toilette ließ. Einige Zeit verging und Lizzie rief, dass die Bestellung fertig war, doch die Tür hatte sich immer noch nicht geöffnet.

Raeanne brachte dem Mann wie ein professioneller Tellerträger-Experte sein Frühstück und sah zu, wie er den Teller seiner Begleiterin anordnete. Er stellte ihn so auf den Tisch, dass das Essen darauf bestimmt angeordnet war. Dann stellte er die Tasse Kaffee auf die eine und das Glas Orangensaft auf die andere Seite. In diesem Moment öffnete sich die Tür und die Frau erschien. Raeanne merkte, wie sich der Mann augenblicklich verspannte und sich wie in Startlöchern kaum auf seinem Platz halten konnte. Seine Augen klebten an der Frau, die jetzt langsam ihren Weg zwischen den Stühlen zu ihrem Tisch machte. Ihre Lippen bewegten sich leicht, als sie ihre Schritte zählte. Es war offensichtlich, dass der Mann drauf und dran war, an ihre Seite zu springen, wenn sie fiel oder sich verlaufen würde, aber er bewegte sich nicht. Er sah nur zu.

"Hier herüber, Lisa", sagte er mit weicher Stimme, als sie näher kam. Mit ihren Händen fand sie ihren Stuhl und sank erleichtert nieder.

Raeanne trat zurück und versuchte, beschäftigt auszusehen, doch die beiden faszinierten sie und sie konnte kaum weg schauen.

"Eier auf neun Uhr", erklärte er, "und der Toast auf drei Uhr. Kaffee links, Orangensaft rechts." Die Frau nickte und griff nach der Gabel. Sie nahm ein wenig von den Eiern auf ihre Gabel und hob sie vorsichtig zu ihrem Mund. Nach ihrem erfolgreichen Versuch musste sie lächeln.

"Gut", war alles, was sie sagte, aber Raeanne sah, dass sich die Spannung durch dieses einfache Wort von dem Mann löste.

Das Restaurant wurde langsam voll, es war jetzt schon fast neun, und Raeanne hatte mit dem allmorgendlichen Andrang alle Hände voll zu tun. Ab und zu blickte sie wieder zu dem Tisch. Das Paar sprach sehr wenig, und sie sah, dass beide sehr müde waren.

"Lass das lieber sein", warnte Lizzie sie einmal, und strich sich eine Strähne ihres weißen Haares zurück in ihren Pferdeschwanz.

"Was sein lassen?"

"Das Pärchen da drüben so zu begucken. Es ist unhöflich." Lizzie runzelte die Stirn, aber Raeanne ignorierte sie. Irgendetwas an ihnen packte sie und schien sie nicht mehr loszulassen. Vielleicht war es die Art, wie der Mann die Frau ansah. In seinen Augen sah sie Angst und Schuld und Bestürzung...  aber unter diesen Emotionen verbarg sich eine Zärtlichkeit, die Raeannes Herz aussetzen ließ.

Sie hatten schon fast zu Ende gegessen, als es passierte.

Raeanne war in der Küche, als sie das Klirren von Glas hörte, das auf dem Boden zerschellte und den hellen Schreckensschrei einer Frau. Sie rannte zurück in das Lokal und sah eine Pfütze Orangensaft und den Gesichtsausdruck der Frau.

Sie war ärgerlich und zugleich verlegen und noch etwas konnte Raeanne darin erkennen, das sie als Ekel deutete. Die Frau hatte feuchte Augen und für einen Moment dachte Raeanne, sie würde anfangen zu weinen. Aber der Mann nahm rasch ihre Hände und sprach beruhigend auf sie ein.

"Keine Sorge, Lisa, es ist alles in Ordnung, es ist alles okay. Er ist nur ein bisschen Saft."

Bei seiner Berührung beruhigte sich die Frau ein wenig und nach einem Moment stotterte sie, "Ich... ich weiß. Es tut mir leid... es ist nur..."

"Ich weiß", sagte er und winkte Raeanne zu sich. Er ließ nicht für eine Sekunde ihre Hand los. "Können wir die Rechnung haben, bitte?" fragte er.

Raeanne eilte zu ihrem Tisch und reichte ihm den Bon. Sie nahm den Lappen von ihrer Schürze und wischte den Saft ohne ein Wort der Empörung weg. Sie ging zur Theke, um einen Handfeger zu holen, um auch das Glas aufzuräumen.  Als sie zurück kam, machte der Mann sich gerade daran, ein paar Dollarnoten aus seiner Brieftasche zu holen. Raeanne sprach ohne nachzudenken.

"Das ist schon ok", sagte sie. "Das geht aufs Haus."

Der Mann sah sie überrascht und misstrauisch an. "Ich habe das Geld dafür."

"Oh, da bin ich mir sicher", druckste Raeanne. "Aber, wirklich, es ist mir ein Vergnügen. Sie... Sie sehen aus, als seien Sie schon länger unterwegs.  Es ist das Mindeste, was ich tun kann."

Für einen Moment sagte er nichts. Er wollte offensichtlich ihr Angebot nicht annehmen. "Lassen Sie mich wenigstens für das Glas bezahlen."

"Nein, wirklich, ich bestehe darauf. Ich führe dieses Restaurant." Raeanne merkte, wie Lizzie ihr einen bösen Blick zuwarf und sie fühlte sich wegen dieser Lüge sehr schuldbewusst. Aber Lizzie ließ es durchgehen.

"Also... danke", sagte der Mann. "Das ist sehr nett von Ihnen."

Die Frau saß mit feuchten Augen immer noch, wo sie war.

"Ich hätte da eine Frage", sprach der Mann Raeanne an. "Ist hier in der Nähe ein Motel oder so etwas, wo wir uns ein wenig ausruhen können?"

Raeanne nickte. "Etwas weiter oben gibt es ein 'Bed & Breakfast' ... es ist das einzige in der Stadt, aber es ist sauber und wirklich nett."  Rasch schrieb den Namen der Pension auf die Rückseite der Rechnung und reichte sie ihm. "Sagen Sie, Raeanne schickt sie, dann werden sie ein schönes Zimmer bekommen."

"Danke, Raeanne", sagte er und sie fühlte einen angenehmen Schauer auf ihrem Rücken, als der Mann ihren Namen mit seiner dunklen Stimme sagte.

"Jederzeit", antwortete sie und sah zu, wie er der Frau aufhalf und sie aus dem Diner führte.

 

 

Die Pension war genauso, wie die Kellnerin es versprochen hatte: sauber, ordentlich und ruhig. Mulder schrieb sie mit ihren Alias' an der Rezeption ein, an das er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Rick und Lisa Wilder. Er hatte die Namen ausgesucht. Der Nachname war derselbe wie von einem seiner Lieblingsregisseure. Die Vornamen sollten eigentlich eine Hommage an seine Lieblingsfilme sein, aber Scully gefiel es ganz und gar nicht, "Ilsa" genannt zu werden. Außerdem war das nicht gerade der beste Deckname, wenn man untertauchen möchte. Also hatten sie sich für Lisa entschieden. Als Mulder über seinen Namen nachdachte, verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, das sich nach einer langen Zeit seltsam anfühlte.

Natürlich hatten Mulder und Scully andere Identitäten mit Kreditkarten, Ausweisen und Reisepässen sicher in ihren Taschen für Notfälle. Es war eine Voraussetzung des FBI, immer eine andere Identität bei sich zu tragen, falls es dazu kommen sollte, undercover arbeiten zu müssten, oder wenn sie nicht darum herum kamen, ein neues Leben beginnen zu müssen. Aber diese Identitäten waren beim FBI gespeichert, also brachten sie ihnen in dieser Situation überhaupt nichts.

Sie mussten nämlich vor der Regierung selbst fliehen.

Mulder verbannte diesen Gedanken aus seinem Kopf, als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und Scully hinein half. Er spürte ihre Hand auf seinem Arm, als sie ihm folgte und aufmerksam seiner Beschreibung des Zimmers zuhörte.  Der Raum war klein, deswegen war die Beschreibung auch nicht sehr lang. Er führte sie zu dem Bett und sie setzte sich und sah auf einen Punkt irgendwo über seiner Schulter.

"Wie viel noch, Mulder?" fragte sie und nannte ihn in der Sicherheit des kleinen Zimmers bei seinem richtigen Namen.

"Wie viel was?" fragte Mulder. Er fühlte sich müder als je zuvor in seinem Leben. Er ließ sich auf den Stuhl gegenüber vom Bett fallen und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

"Geld", antwortete sie. "Wie viel haben wir noch?"

Er zog sein Portemonnaie aus der hinteren Tasche seiner Jeans und zählte rasch die Dollarscheine. "Einhundertelf und dreiundfünfzig Cents", erwiderte er und die Realität ihrer Situation ergriff ihn.

Sie hatte es ebenfalls bemerkt. Mulders Herz sank, als er sie ihre Schultern in Resignation senken sah. Ihre dunklen Haare, die ihr Gesicht einrahmten, ließen sie sogar noch kleiner und verletzlicher erscheinen;

Mulder vermisste die feuerroten Locken sehr, die er immer mit ihrer Kraft und Stärke verbunden hatte. "Das muss aufhören, Mulder", sagte sie. "Wir halten das nicht mehr lange aus."

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Mulder, einen Vorteil durch seine Pläne für so eine Situation heraus zu schlagen. Er wusste, dass sie beide Geld zurückgelegt hatten, falls so ein Fall mal eintreten würde. Aber sie hatten nie damit gerechnet, dermaßen mittellos und in der Falle zu sein. Sie waren auf der Flucht, und sie durften sich nie umdrehen.

Mulder verfluchte die Banken, die nicht mehr als $300 auf einmal von ihren Geldautomaten abheben ließen. Sie hatten $300 von seinem und $300 von ihrem Konto genommen und $300 von seiner Kreditkarte, die er zufällig in seiner Tasche gefunden hatte. Neunhundert Dollar scheinen eine Menge Geld zu sein, bis es das einzige Geld ist, das man hat, grummelte er innerlich.

"Noch ein paar Tage, Scully." Er versuchte, Zuversicht in seine Stimme zu legen. "Bald werden sie die Überwachung stoppen und wir können hier raus.  Aus diesem Land und aus diesem Leben."

"Mulder." Ihre Stimme war kalt, dunkel und flach. "Wir haben fast kein Geld mehr und uns rennt die Zeit davon. Du musst weiter machen, solange du noch kannst."

Weitermachen? Fragte eine Stimme in seinem Kopf. Und dich verlassen? Nie im Leben... schwor er.

"Was soll das heißen?" fragte er und war dankbar, dass die Worte einigermaßen normal aus seinem Mund kamen. "Wir stecken zusammen in dieser Klemme."

"Mulder..." sagte sie und klang nun müde und erschlagen. "Du kannst nicht den Rest deines Lebens damit verbringen, auf mich aufzupassen. So ist es nur einfacher für die, uns zu fassen."

"Scully..." Er durchquerte den Raum, setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter. "Das hier ist nur vorübergehend", sagte er und zog sie näher an sich heran. "Die Explosion..."

Sie wich von ihm zurück und er spürte die sprichwörtliche Kälte an seiner Seite und in seiner Seele. "Es sind nun schon drei Wochen", flüsterte sie.  "Das ist nicht... das ist nicht mehr vorübergehend. Das ist Wirklichkeit.  Und du musst das akzeptieren. Ich... ich habe es akzeptiert", endete sie leise.

Es akzeptieren? Die Tatsache akzeptieren, dass Dana Scully, seine schlagfertige, starke und unabhängige Partnerin jetzt wegen *denen* blind war? Die Tatsache akzeptieren, dass sie wollte, dass er ohne sie weitermachen soll und sich alleine dem stellen, was sie vor sich hatten? *NIEMALS*...  wiederholte die Stimme in seinem Kopf.

"Hör auf!" Er war überrascht, dass seine Stimme so harsch klang. "Hör auf, so zu reden. Dies hier geht uns beide an." Er versuchte, ruhiger zu sprechen, als er ihr Gesicht in seine Hände nahm und es sanft hielt.  "Scully, hör mir zu. Wir haben schon Schlimmeres durchgestanden... wir stehen auch das hier durch. *Zusammen*."

Er sah sie an und wünschte sich, sie könnte ihm ebenfalls in die Augen sehen. Aber ihr Blick blieb fern und leer, ihre normalerweise klaren blauen Augen waren verdeckt durch den Schleier, der auf sie gefallen war und der sie in Dunkelheit verbannte.

Mulder konnte sich kaum daran erinnern, was nach der erschütternden Explosion des Hauses eigentlich passiert war. Überall waren Feuer und Sirenen und das knallende Geräusch von Schritten um ihn herum. Irgendwie hatte er sie in dem ganzen Rauch und der Panik bewusstlos liegen sehen. Er hatte sie aus dem brennenden Haus getragen und verzweifelt versucht, allen Feinden aus dem Weg zu gehen. Er hatte es geschafft, ein Auto kurzzuschließen und ist ohne weiter nachzudenken davongerast, sein einziger Halt an einem Geldautomaten einer kleinen Bank, um alles Bargeld aus ihm heraus zu quetschen, das er bekommen konnte. Als er aus DC heraus fuhr wusste er, dass er es nicht wieder riskieren konnte.

Nicht riskieren, dass man sie dadurch aufspürte.

Nicht riskieren, dass sie gefunden werden.

"Jetzt hör mir mal zu." Seine Stimme war fest aber doch zärtlich. "Ich möchte, dass du dich etwas hinlegst... ruh dich ein wenig aus. Ich werde versuchen, ein Telefon zu finden. Und dann sehen wir weiter, ja?"

Sie nickte und ihm wurde bewusst, wie zerbrechlich sie sich in seinen Händen anfühlte. Er half ihr, die Laken aufzudecken und deckte sie zu. Er strich über ihr Haar, als sie ihren Kopf auf das Kissen bettete. "Okay?" fragte er.

"Vorerst..."  sagte sie bereits im Halbschlaf. "Komm bald zurück."

"Das werde ich." Er hielt an der Tür inne, bevor er in das helle Morgenlicht trat und sich auf die Suche nach einem Telefon machte. Er betrachtete ihre zierliche Form unter den Laken und er fühlte Schmerz und Wut auf einmal. Wie hatte das nur passieren können? fragte er sich angsterfüllt. Wie konnte nur alles, das sie hatten, alles, wofür sie gearbeitet hatten, so enden? Er schob seine Rachegedanken beiseite, denn im Moment hatte er andere Verpflichtungen. Der Rest hatte noch Zeit.

 

 

Als sie hörte, wie er die Tür hinter sich schloss, überkam sie ein Gefühl der Angst. Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten und hielt ihr Kissen mit aller Kraft fest. Gott, es war so schwer... sie hatte Angst, Todesangst vor dieser neuen, schwarzen Welt in der sie jetzt gezwungen war zu leben.  Diese Dunkelheit war kalt und tief und erschreckend. Sie hatte sich nie vorgestellt, wie es ist, wenn man nicht alles sehen konnte, was vor einem lag und unfähig zu sein, Richtungen oder Orte zu erkennen. Sie hatte sich nie die schreckliche Hilflosigkeit vorgestellt oder das Gefühl der Ungleichheit gegenüber anderen und das Gefühl der Abhängigkeit. Sie hatte nie geglaubt, dass sie je eine solche Einsamkeit empfinden würde.

Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, was passiert war. Sie war so nahe dran, so nahe dran... sie war davon überzeugt, dass es endlich die Wahrheit aufdecken würde, dass sie endlich die Männer gefunden hatte, die für den Computerchip in ihrem Nacken verantwortlich waren, die Männer, die ihre Entführung befohlen hatten, welche das Leben zerstört hatte, das sie einmal kannte. Und dann ist alles schief gelaufen... bis Mulder auftauchte.  Und für einen leichtsinnigen Moment hatte sie gedacht, dass alles wieder in Ordnung kommen würde, dass sie endlich das einzige gefunden hatten, das sie suchten... die Wahrheit.

Doch dann erschütterte die Explosion die Luft.

Sie konnte sich an ein grelles, blendendes Licht erinnern und dann an gar nichts. Nichts als an die Dunkelheit, die sie umschlang und drohte, sie zu überwältigen... und an Mulder.

Er war bei ihr, als sie das Bewusstsein wieder erlangt hatte. Er fuhr einen unbekannten Wagen mit einer Eile, die sie augenblicklich wahrnahm. Und ihr wurde mit einem Schlag klar, dass ihre größte Angst Wirklichkeit geworden war.

Sie waren allein, auf der Flucht. Ohne sich an jemanden wenden zu können.

Niemand konnte ihnen helfen. Niemand außer ihnen selbst.

Scully hatte schon lange erwartet, dass es einmal zu so etwas kommen würde.  Aber ein Teil von ihr glaubte, dass es wegen Mulder passieren würde, wegen seiner intensiven Suche, seinem verzweifelten Streben, seinen rastlosen Versuchen, die Wahrheit zu finden.

Sie hatte nie gedacht, dass sie gezwungen würden wegen etwas zu fliehen, das sie verursacht hatte. Doch genau das war passiert.

Ein Teil von ihr war zutiefst dankbar, dass Mulder bei ihr war. Sie wusste, dass sie ohne ihn vor lauter Angst aufgegeben hätte. Doch mit ihm an ihrer Seite dachte sie von Zeit zu Zeit, dass sie es schaffen könnten. Dass sie es schaffen könnten, denen zu entfliehen, die sie vernichten wollten.

Aber in dunklen Momenten verfluchte sie sich dafür, dass sie ihn immer tiefer in das Netz verstrickte und ihn in eine derartige Zwangslage brachte. Alles würde jetzt anders für sie werden, möglicherweise für immer, und es war ihre Schuld, dass Mulder sein Leben hergeben musste, um ihres zu beschützen.

Sie dachte an den ersten Abend, an dem er sie für eine Zeit in einem Motel allein lassen musste, um mit ihrem wenigen Geld Kleidung zu kaufen und sie mit dem Nötigsten zu versorgen. Er hatte auch eine Packung Haarfärbemittel mitgebracht, und sie hatte zuerst widersprochen. Doch dann sah sie ein, dass es nötig war - dass sie alles unternehmen mussten, um ihre Spuren zu verwischen. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte, wie sie jetzt aussehen müssten. Sie konnte Mulder nicht einmal durch ihre Berührung erkennen, denn sein bärtiges Gesicht war ungewohnt an ihren Fingerspitzen. Und doch war es nicht genug—nicht genug, um sie da hin zu bringen, wo sie hin mussten.

 

Der Einfluss der Männer Im Schatten reichte weiter, als sie je angenommen hatte. Er fesselte sie an einen endlosen Kreis mit Autofahrten bei Nacht und Schlaf bei Tag. Sie versteckten sich wie Flüchtige.

Mit einem tiefen Seufzen vor Erschöpfung und Resignation ließ Scully den ersehnten Schlaf über sich kommen.

 

Mulder fand ein Münztelefon am Ende der Straße. Er nahm den Hörer und wählte schnell eine Nummer. Nach dreimaligem Klingeln bekam er eine Antwort. Er sprach leise, da er wusste, dass es für die Regierung ein Leichtes sein würde, ihn durch das Telefonat aufzuspüren. "Drei-Null-Acht, Fünf-Fünf-Fünf, Vier-Acht-Drei-Null", sagte er und knallte den Hörer wieder auf die Gabel. Fünf Minuten vergingen, fünf Minuten, in denen er aufmerksam die Leute beobachtete, die an der Telefonzelle vorbeigingen. Das Telefon klingelte.

"Ja?" Er hob ab, bevor es ein zweites Mal klingeln konnte.

"Hallo." Mulder entspannte sich ein wenig, als er Byres' Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm. "Seid ihr okay?"

"Vorerst ja", antwortete Mulder. "Wie viel Zeit haben wir?"

"Fünf Minuten", sagte Byres. "Im Moment wissen die nicht, ob ich mit einer Militärbasis in der Antarktis oder mit einer Bar in Chile telefoniere."

Über Mulders Gesicht huschte ein Anflug eines Grinsens.

Er hörte, wie sich Langley einklinkte. "Das Netz ist immer noch ausgeschaltet. Eure neuen Identitäten gehen klar, aber wir können euch keine Reisepässe besorgen. Außerdem gibt es überall haargenaue Personenbeschreibungen von euch in allen möglichen Varianten. Keine Verkleidung kann euch momentan in ein Flugzeug aus den Staaten heraus bringen."

Mulders Herz sank bei seinen Worten. Er kannte die Einsamen Schützen und wusste, dass sie die Wahrheit sagten.

"Ihr müsst jetzt stark bleiben", sagte Byres.

"Das werden wir", erwiderte Mulder mit was er hoffte fester Stimme.

"Ist sie okay?" Frohike war wie immer besorgt um Scully.

"Ja..." seufzte Mulder. "Sie ist okay."

Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung, dann sprach Byres. "Wir versuchen, euch irgendwie Bargeld zu besorgen. Rufst du morgen wieder an?"

"Darauf kannst du wetten", antwortete Mulder und legte auf. Abermals fühlte er, wie ihn Wut und Frust durchfuhr. Diese Machtlosigkeit. Er hatte versprochen, sie zu beschützen, doch er hatte wieder versagt. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste und versuchte, die Intensität dieser Empfindungen in etwas Positives zu wandeln, in etwas, das ihm erlaubte, weiter zu machen. Nach einem Moment verließ er die Telefonzelle und ging zurück zur Pension.

 

Es war schon spät. Der Tag hatte sich längst in Nacht verwandelt, doch für Scully machte es keinen Unterschied. Sie bemühte sich, ihre Haare in einen Zopf zu binden. Sie wusste, dass es nicht sehr gerade sein würde, doch das war ihr egal. Mulder war hinaus zum Auto gegangen und bepackte es mit ihren wenigen Sachen, bevor er zum Supermarkt fuhr, um etwas zu Essen für ihr Mahlzeiten unterwegs zu besorgen. Scully wusste, dass sie nahe an dem Punkt angelangt war, an dem sie meinte, nicht mehr weiter machen zu können. Und dass wenn sie diesen Punkt fast erreicht hatte, Mulder ihn schon längst überschritten haben musste.

Ein Klopfen an der Türe riss sie aus ihren Gedanken und sie griff erschrocken nach der Waffe, die Mulder immer auf dem Nachttisch liegen ließ. Im Grunde wusste Scully, dass ihre Chancen, ein Ziel zu treffen, fast Null waren, aber das Gefühl der Waffe in ihrer Hand beruhigte ein wenig ihren rasenden Herzschlag.

"Hallo?" rief sie mit einem rauen Flüstern. "Wer ist da?"

"Raeanne", kam die Antwort. "Die Kellnerin aus dem Restaurant heute morgen."

Scully zögerte, aber ihr neuerdings verschärftes Gehör sagte ihr, dass es tatsächlich die Stimme des Mädchens war, die ihnen Frühstück gebracht hatte. Sie legte die Pistole beiseite und öffnete vorsichtig die Tür.

 

"Hallo", sagte Raeanne und merkte, wie verspannt die Frau aussah. "Ich...  ich wollte Sie nicht erschrecken", entschuldigte sie sich. "Ich... ich bringe Ihnen... nur ein paar Sachen. Ich dachte... vielleicht... könnten Sie sie gebrauchen."

Raeanne hielt Scully ein kleines Bündel hin, die mit beiden Händen den Stoff betastete. Es war nicht viel—ein paar von Raeannes alten T-Shirts, eine Hose und einiges, das sie aus den hintersten Fächern des Kleiderschranks ihres Bruders Tommy genommen hatte. Raeanne fühlte sich für einen Moment sehr unbehaglich, als ob sie einen großen Fehler gemacht hätte. Doch dann lächelte die Frau.

"Danke..." sagte sie ruhig. "Danke vielmals."

"Kein Problem", sagte Raeanne erleichtert. "Falls ich noch irgendwie helfen kann..."

"Nein", antwortete die Frau mit fester Stimme. "Sie haben schon so viel getan."

"Okay..." sagte Raeanne und bewunderte die Willenskraft der Frau. Sie war genau die Art Frau, die Raeanne sich manchmal wünschte zu sein - selbstsicher und ohne Angst. Ein Teil von ihr fühlte sich sehr zu der Frau hingezogen, aber sie unterdrückte dieses Gefühl und wandte sich zum Gehen.  Als sie ging, musste sie plötzlich an etwas denken, und die Worte strömten einfach aus ihr heraus.

"Seien sie vorsichtig", sagte sie.

Die Frau nickte wieder und begann, die Tür zu schließen. "Danke noch mal", sagte sie und Raeanne hörte den Unterton der Endgültigkeit in ihrer Stimme.

Die Tür fiel vor ihr zu, und sie machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Wagen. Sie dachte an Luke und daran, ob er unter solchen Umständen ihr genauso zur Seite stehen würde, wie der Mann dieser Frau. Eine Stimme in ihr sagte nein. Es gab sicher nur wenige Männer, die das tun würden.

 

 

Scully hatte das Bündel Kleider in eine Papiertasche gepackt, die sie unter dem Bett gefunden hatte und saß nun auf dem Bett und wartete auf Mulder.  "Alles fertig?" fragte er, als er zurückkehrte.

"Ja", sagte sie. "Ein lieber Engel—die Kellnerin von heute morgen—hat uns ein Geschenk gebracht."

Sie hörte, wie Mulder in die Tasche schaute und den Inhalt untersuchte, bevor er erleichtert seufzte. Plötzlich fühlte sie eine Welle von Zuneigung für ihn. Sie ahnte, wie es für ihn sein musste und sie liebte ihn dafür, dass er bei ihr war.

"Die sind in Ordnung", sagte er und nahm sie beim Arm. "Lass uns gehen."

Sie hörte, wie er die Tasche mit der anderen Hand nahm und ließ sich von ihm aus dem Zimmer zum Auto führen. Sobald sie saß tastete sie nach dem Sicherheitsgurt und ließ ihn sicher einklinken, als er den Wagen startete.

"Wohin fahren wir?" fragte sie.

"Oh... Richtung Nirgendwo", antwortete er. "Vorerst."

Als das Auto die Einfahrt verließ und auf die Straße fuhr, ließ Scully sich in ihrem Sitz zurücksinken. Sie fühlte sich sicher und geborgen mit Mulders Hand auf ihrem Arm. Vorerst... dachte sie. Wenigstens geht es uns vorerst gut. Weiter mochte sie gar nicht denken. Aber vorerst...

Das Auto beschleunigte auf dem Highway und raste einem unbekannten Ziel zu.

 

 

 

"...you think you've got the devil on retreat but he's back up on his feet and he's looking for you..."

pete droge

 

 

 

Oh, mein Gott! :) Ich möchte mich bei allen bedanken, die eine so enthusiastische Antwort auf meine kleine Geschichte geschrieben haben! Ich bin froh, dass einige von Euch gerne eine Fortsetzung lesen würden. Ich hatte sehr viel Spaß beim Schreiben... Das Lustige ist, dass ich diese Geschichte am Freitag gepostet habe und mir danach ein kleiner Epilog einfiel, den ich unbedingt aufschreiben musste. (Gut, dass die Leute Raeanne mögen...) Ich kam in mein Büro und eine Menge liebenswerter E-Mails warteten in meiner Mail-Box auf mich! :) Ich denke also, dass es noch mehr geben wird...

Wort der Autorin: Dieses ist ein Epilog zu einer Story, die ich gestern gepostet habe (...) nvrgrim@aol.com

Dementi: Dieselbe alte Geschichte—Danke an Chris Carter, 1013 und Fox Inc. für das Schaffen dieses wundervollen Stückchen Welt und an dem ich teilhaben darf...

 

 

RICHTUNG NIRGENDWO - EPILOG 

von Nicole Perry ( nvrgrim@aol.com )

 

 

'...it's just not the same when I can't wake up and see you there beside me. The whole day starts off different, and sometimes it feels like this isn't ever going to end. But you should know that I think about you, all the time, and I know we'll always be together—'  (-> '... es ist einfach nicht dasselbe, wenn ich nicht aufwachen kann und dich neben mir sehe. Der Tag beginnt völlig anders und manchmal scheint es, als ob er niemals zu Ende geht. Aber Du solltest wissen, dass ich an dich denke, die ganze Zeit, und ich weiß, wir werden immer zusammen sein—')

 

"Raeanne!" Lizzies scharfe Stimme riss sie aus ihrer Träumerei. Sie faltete den Brief schuldbewusst wieder zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. Es war nicht so, als ob sie ihn noch lesen musste—sie konnte die Worte klar in ihrem Kopf hören—aber sie fühlte sich dadurch irgendwie näher bei ihm, wenn sie ihn in den Händen hielt. Lukes Briefe waren sowieso selten genug. Sie nahm an, dass sie etwa zehn Briefe für einen von ihm geschrieben hatte.

"Hol' bitte die Biskuits aus dem Ofen, bevor sie anbrennen", sagte Lizzie und Raeanne beeilte sich, das Gesagte auszuführen.

"Entschuldige bitte, Lizzie", sagte sie, als sie den Herd ausschaltete und nach den Topflappen griff, um die Platte mit dem süßlich riechenden Brot heraus zu holen.

"Liest du etwa schon wieder den Brief?" lächelte Lizzie als sie in der Küche rumorte.

"Er ist Gold wert", sagte Raeanne und bei dem Gedanken an Luke überkam sie ein Gefühl der Zufriedenheit. Nur noch sieben Monate... sie war sich sicher, dass sie noch so lange aushalten konnte. Und außerdem würde er genau zu ihrem Geburtstag wieder da sein. Genau richtig, um ihr den Ring an den Finger zu streifen, von dem sie träumte.

Raeanne ging zu den verschiedenen Tischen im Diner, füllte Kaffee nach und nahm Bezahlungen entgegen. Die Klingel über der Tür läutete und ein Mann betrat das Diner.

Er war groß und hager. Sein Haar war grau-braun und auf seinem Gesicht zeichneten sich tiefe Falten ab. Er hatte einen Anzug unter seinem Trenchcoat an, was nicht allzu ungewöhnlich war, da Geschäftsreisende immer wieder das Diner aufsuchten. Aber Raeanne zog bei dem Anblick seiner Augen unwillkürlich die Luft ein.

Er hatte dunkle Augen, die unverheißungsvoll glänzten. Er hatte die Sorte Augen, denen Raeanne nie begegnen wollte. Diese Augen hielten ein Wissen, von dem sie nicht das Geringste erfahren wollte.

Raeanne schlüpfte hinter die Theke und versuchte so, eine Trennung zwischen dem Fremden und sich aufzubauen. Aber er sah sie und kam mit festen Schritten auf sie zu. "Ich suche den Sheriff... Jim McAllister. Auf der Wache hat man mir gesagt, ich könne ihn hier finden."

Raeanne brachte plötzlich kein Wort mehr hervor und zeigte nur auf McAllister, der wie üblich in der Nische in der Ecke des Raumes saß.

Der Mann drehte sich um und näherte sich dem Sheriff, der seine Zeitung und die Kaffeetasse absetzte und dem Mann den Stuhl gegenüber anbot. Der Fremde setzte sich und holte dabei seine Marke aus seinem Mantel. Sie redeten kurz miteinander, aber Raeanne war zu weit entfernt, um zu verstehen, was sie sagten. Von ihrem Platz hinter der Theke beobachtete sie, wie der Mann einen Umschlag aus seiner Manteltasche holte und ihn dem Sheriff reichte.  McAllister sah vorsichtig nach dem Inhalt und schüttelte den Kopf. Der Mann stand auf und nahm den Umschlag zurück.

Die Erleichterung, die Raeanne überfiel, als sie erkannte, dass der Mann im Begriff war zu gehen, verschwand urplötzlich, als McAllister sie zu sich winkte.

"Hey, Raeanne! Könntest du mal für einen Moment herkommen?"

Raeanne zögerte, ihre Füße wollten ihr plötzlich nicht mehr gehorchen.

"Rae?" rief der Sheriff ungeduldig und sie wusste, dass sie ihn nicht ignorieren konnte. Langsam ging sie zu dem Tisch. Sie konnte die Augen des Fremden die ganze Zeit auf sich fühlen.

"Brauchen Sie etwas, Sheriff?" fragte sie ruhig.

"Ja", sagte McAllisters ruhig. "Dieser Herr hier ist von der Regierung. Er sucht zwei Flüchtige, die vielleicht hier gewesen sein könnten. Ich kann mich nicht erinnern, sie gesehen zu haben, aber ich weiß, dass du den ganzen Tag hier bist. Ich wäre dir dankbar, wenn du einen Blick auf die Fotos werfen könntest."

Raeanne nickte McAllister zu, als der Mann ihr den Umschlag gab. Ein unwohles Gefühl überkam sie, als sie ihn entgegen nahm. Sie wollte den Inhalt überhaupt nicht sehen.

"Warum werden sie gesucht?" fragte sie. "Was haben sie verbrochen?"

Der Mann beantwortete ihre Frage mit eiskalter Stimme. "Diebstahl von Regierungseigentum", sagte er. "Und Mord an einigen FBI-Agenten."

McAllister fiel ein. "Sie sind gefährlich und bewaffnet." Er schüttelte den Kopf und wiederholte, was der Mann zuvor gesagt hatte, um die Wichtigkeit der Situation deutlich werden zu lassen. "Der Befehl lautet zu schießen, wenn sie gesehen werden."

"Oh", machte Raeanne. "Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe so jemanden hier nicht gesehen."

"Woher wollen Sie das wissen?" fragte der Mann. "Sehen Sie sich doch die Fotos erst einmal an."

Raeanne musste tun, wie ihr gesagt wurde und sie zog die Bilder aus dem Umschlag. Das eine war von einem jungen Mann in dunklem Anzug und auffallender Krawatte. Er war glattrasiert und ernst, aber seine braunen Augen strahlten Intensität und Intelligenz aus, die geradezu aus dem Foto herausstachen. Das andere Bild war das einer jungen Frau mit elfenbeinfarbener Haut und kastanienbraunem Haar. Sie lächelte, und ihr Lächeln unterstrich ihre blauen Augen. Es schien, als versteckte sie tief in ihnen ein schönes Geheimnis, das sie vor dem Fotografen verbergen wollte.

"Schwer zu glauben, was?" kommentierte McAllister. "Sie sehen überhaupt nicht wie diese Sorte Mensch aus."

"Vertrauen Sie mir", sagte der Mann. "Die Dinge verändern sich."

Raeanne konnte die Richtigkeit dieser Worte nicht abstreiten, aber sie konnte die beiden einfach nicht vergessen, obwohl es schon zwei Wochen her war, als sie in dem Diner aufgetaucht waren. Der Mann war so zärtlich und umsichtig mit der Frau umgegangen und die Frau schien so stark und mutig zu sein. Die Art, wie sie sich zusammen bewegten, nur verbunden durch ein unsichtbares Band, eine Verbindung, die keine Worte brauchte und die so tief und kraftvoll war, dass Raeanne sie deutlich spüren konnte.

Es war schwer vorstellbar, dass diese vor Leben sprühenden Leute dieselben sein sollten, wie das erschöpfte, müde Paar, das sie bedient hatte. Der Mann hatte Recht — es hatte sich etwas für die beiden verändert, etwas Seltsames und Schlimmes. Sie mögen ja bewaffnet sein, aber Raeanne wusste mit einer intuitiven Sicherheit, dass sie nicht gefährlich waren.

Sie wusste instinktiv, dass sie diejenigen waren, die in Gefahr waren.

Raeanne zog die Luft ein und steckte die Bilder wieder in den Umschlag.  "Hab' keinen von denen hier gesehen." Sie sah den Mann nicht an, sie gab ihm lediglich den Umschlag und hielt Augenkontakt mit McAllister.

Der Mann sagte nichts. Er steckte den Umschlag zurück in seine Manteltasche und holte eine Packung Zigaretten hervor. Es war eine unübliche Marke, die Raeanne nicht kannte. Der Mann zündete ein Streichholz an und inhalierte dann den Rauch der Zigarette.

"Sind Sie sicher?" sagte er leise, fast zischend. "Ganz sicher?"

Raeanne sah ihn an und fühlte sich in seinem bohrenden Blick gefangen wie Wild im Scheinwerferlicht eines Autos. Eine Rauchwolke zog über seinen Kopf und in diesem Moment hatte Raeanne richtige Angst. Nicht für sich selbst, sondern für das mysteriöse Pärchen, das ihr einfach nicht aus dem Kopf ging. Sie ignorierte das Hämmern ihres Herzens und zwang sich zu einem endgültigen Kopfschütteln und entzog sich dem Griff des Mannes.

"Ich bin mir sicher."

Der Mann starrte sie noch eine Sekunde an, dann zog er ein weiteres Mal an seiner Zigarette.

"Sir?" Raeanne drehte sich um und sah Lizzie sich über die Theke lehnen mit ernstem Gesicht und angespanntem Blick. "Dies ist ein Nichtraucher-Lokal."

Der Mann blickte die weißhaarige Frau an, doch er antwortete nicht.

"Danke", wandte er sich an McAllister und Raeanne und drehte sich zum Gehen.  Als er durch die Tür ging, nahm er noch einen Zug von der Zigarette und ließ sie vor der Türschwelle fallen. Er warf Raeanne einen seltsamen Blick zu und drückte sie mit der Sohle aus. Dann trat er aus der Tür, welche hinter ihm in die Angel fiel.

Raeanne brauchte einen Moment, um sich wieder bewegen zu können. Der Schrecken steckte ihr noch in den Gliedern. Sie ging zur Tür, hob den Stummel mit einem Papiertaschentuch auf und beförderte ihn in den Papierkorb. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Bitte, Gott... lass nicht zu, dass ihnen etwas geschieht.

In diesem Moment betrat eine vierköpfige Familie das Lokal und Raeanne steckte im Handumdrehen wieder in Arbeit. Aber sie konnte den unheimlichen Mann und den bösartigen Blick, den er ihr beim Gehen zugeworfen hatte, bis zum späten Nachmittag nicht vergessen.

 

'... pleased to meet you, won't you guess my name? What's puzzling you is the nature of my game...'

Rolling Stones